"Raus! Raus! Raus!"

Sie gingen barfuß durch die Lande, trugen lange Haare, Leinenkittel und Wanderstab. Verteilten kleine Traktate oder Gedichte. Gern luden sie auch am Lagerfeuer zu Kreistanz und Gesang. Gustav Gräser, Friedrich Muck-Lamberty und Gustav Nagel gehören zu den bekanntesten frühen Naturgurus, charismatischen Wanderpredigern und Lichtpropheten. Die Jahre von 1900 bis 1930 war ihre Zeit, die Zeit des Wandervogels und der freien Liebe. Es entstand ein Markt für Fleischersatzprodukte, weit geschnittene Reformkleider und Jesus-Sandalen. „Raus! Raus! Raus!“ So stand es auf dem grünen Wagen, mit dem Gusto Gräser um 1930 in Brandenburg unterwegs war. In Gang bleiben, das nahm Gräser als Lebensmotto durchaus wörtlich. Bei Waldsieversdorf in Grünhorst war er Mitglied einer alternativen sonnenhungrigen Künstlerkommune geworden. Feste Behausungen lehnte man ab, lebte in Höhlen oder Bretterverschlägen. Nicht auf Besitz, sondern auf seelischen Reichtum komme es an, davon waren die Siedler überzeugt. Gewaltfrei und natürlich wollte man leben, nahe am Urchristentum. So nimmt es nicht wunder, dass einige der Protagonisten auch in ihrer äußerlichen Erscheinung die Nähe zu Jesus von Nazareth suchten. Die öffentliche Aufmerksamkeit war ihnen so allemal sicher.

Wodurch bekamen solche Bestrebungen Auftrieb? Versetzen wir uns in die Zeit um 1900 in Berlin. Die Schornsteine qualmten. Die Gründerzeit hatte einen industriellen Boom mit sich gebracht. Der Moloch Stadt rückte immer weiter in die Außenbezirke vor. Auf den dunklen Hinterhöfen der Wohnhäuser herrschte Gedränge. Die Kaiserzeit strotzte nur so vor pompösem Militarismus und ästhetischem Plüsch. Vor diesem Hintergrund stellten sich immer mehr Menschen die Frage: Wie wollen wir leben? Die Sehnsucht nach einem unentfremdeten naturnahen Leben ergriff weite Teile der Jugend. Unter der Überschrift Lebensreform lassen sich diese vielfältigen Bemühungen zusammenfassen. Ganzheitliches Denken war dieser Bewegung von Anfang an immanent. So gehören Freikörperkultur, Gartenstadtbewegung, Naturheilkunde, Pazifismus und Biolandbau untrennbar zusammen. Protagonisten der einen Richtung unterstützten meist auch ihre gleichgesinnten Freunde. Die Potsdamer Ausstellung entwirft anhand seltener Originaldokumente und Exponate ein buntes Mosaik einer heute allzu oft in Vergessenheit geratenen Strömung.

Bei FKK denken die meisten zu allererst an die DDR-Zeit. Wer weiß schon, dass es in den 1920er-Jahren auf einer Sanddüne südlich von Berlin in Motzen eine überaus rege Freikörperkultur gab? Motto: „Wir sind nackt und nennen uns Du“. Hier lud man nicht nur zum Bade, sondern bildete sich auch weiter in Sachen Ernährung und Gesundheit. Wie gründlich man alle Scham abgeworfen hatte, zeigen die beeindruckend lebendigen Aktfotografien. Nacktheit wurde fotografisch auch in der Inselstadt Werder zelebriert, wo Karl Vanselow die Zeitschrift „Die Schönheit“ herausgab.

Zurück zur Natur, das bedeutete auch zurück zum Landleben. Siedlungen wurden gegründet. Grundlage waren verschiedene neue weltanschauliche Konzepte, darunter die Anthroposophie und der Vegetarismus. Erhard Bartsch, der Weggefährte Rudolf Steiners gründete 1928 bei Bad Saarow ein 100 Hektar großes bio-dynamisches Mustergut. Die „Marienhöhe“ gilt damit als ältester Demeter-Hof Deutschlands. Die Produkte wurden durch das seit 1900 bestehende Reformhaussystem vertrieben. 

Noch 35 Jahre älter als der Demeter-Hof bei Bad Saarow ist die Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg. Sie gilt als ein historisches Zentrum der vegetarischen Bewegung Deutschlands. 1893 beschlossen 18 reformbegeisterte Männer im vegetarischen Wirtshaus „Ceres“ in Berlin-Moabit, einen Garten Eden zu begründen. Man erwarb als ersten Schritt 160 Morgen Land, das man genossenschaftlich bewirtschaftete. Die drei Bäumchen im Wappen der Eden-Siedlung stehen für Lebensreform, Bodenreform und Wirtschaftsreform. 

Oft waren es auch Künstler, die sich an die Spitze dieser Bewegung stellten. Im Friedrichshagener Dichterkreis fand man sich „hinter der Weltstadt“ zusammen, um in der Kunst ein Gemeinschaftsgefühl zu leben. Dabei ging die enge Verbindung nach Berlin nie verloren. Einfach und naturnah, das bedeutete nicht rückwärtsgewandt und provinziell. Im Gegenteil, die Friedrichshagener pflegten immer auch den internationalen Austausch. So nimmt es auch nicht wunder, dass 1902 die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft, die Idee kam aus England, aus dem Umfeld des Dichterkreises heraus gegründet wurde. Zu den Gründern gehörten die Brüderpaare Bernhard und Paul Kampfmeyer, Heinrich und Julius Hart sowie Wilhelm Bölsche, allesamt „Friedrichshagener“. Zum Künstlerkreis gehörte auch Fidus, mit bürgerlichem Namen Hugo Höppener. Er war der Künstler der Lebensreformbe-wegung in Brandenburg. Sein „Licht-gebet“ wurde tausendfach gedruckt. Seit 1909 lebte Fidus in seinem neuerbauten Woltersdorfer Atelierhaus. Schnell wurde sein Haus Anziehungspunkt für Gleichgesinnte aus lebensreformerischen und esoterischen Kreisen. Fidus soll ein sehr geselliger Mensch gewesen sein. Noch dazu spielte er bekanntermaßen ausgezeichnet Klavier. Der von Fidus ins Leben gerufene St. Georgsbund hatte im Atelierhaus seinen Sitz. Von hier aus gingen Druckschriften und Grafik nach ganz Deutschland. 

Wie einige seiner Mitstreiter aus der Lebensreformbewegung war der Maler später anfällig für das Gedankengut der Nazis. Bis 1989 ist das Fidus-Haus durch glückliche Umstände nahezu unverändert erhalten geblieben. Was lag da näher, als an diesem authentischen Ort ein „Museum für Lebensreformbewegungen“ zu installieren. Darüber hinaus sollte selbstverständlich das Wirken des einstigen Hausherren gebührend gewürdigt werden. Ein Förderverein gründete sich, und von Bund und Land wurden finanzielle Mittel bereit gestellt. Sogar einen Eröffnungstermin hatte man schon: Dezember 2000. Finanzielle Unwägbarkeiten führten bald darauf jedoch zur Aufgabe des Projekts und zur Auflösung des Vereins. Falls es doch irgendwann anders kommen sollte und ein solches Museum wieder auf der Tagesordnung stünde, dann hätte die Potsdamer Ausstellung samt Begleitkatalog bestens vorgearbeitet.

Karen Schröder

64 - Herbst 2015
Kultur