Küchenphilosophie

Nehmen wir mal an, dass ein Mensch in Deutschland grob geschätzt 80 Jahre alt wird und jeden Tag für die Zubereitung seiner Speisen, zum Essen und zum Wiederaufräumen cirka drei Stunden benötigt, dann steht und sitzt er im Laufe seines Lebens ungefähr 87 600 Stunden in der Küche. Das sind zehn Jahre ohne Schlaf. Natürlich schwankt diese Zahl bei jedem Einzelnen. Meist steht nur einer am Kochherd und auch die Kinder kochen noch nicht wirklich. Aber es gibt auch Zeiten, in denen man viel länger in der Küche ist, beim Plätzchenbacken zum Beispiel, wenn die Hausaufgaben zusammen gemacht werden und bei Partys. In der Küche fallen die meisten Entscheidungen. Tränen des Lachens, der Liebe, des Kummers und des Mitgefühls, all diese landen neben den Marmeladenflecken auf dem Küchentisch. Kein Wunder also, dass die Küche nach dem Bett der wichtigste Ort im Leben eines Menschen ist. Die Architektur der Küche beeinflusst damit auch die Lebensgewohnheiten ihrer Nutzer. 

Bis zu unseren heutigen Küchen war es ein langer Weg. Um von der Feuerstelle wegzukommen, musste erst mal das Kochgeschirr entwickelt werden. Davor wurde nur im oder über dem Feuer gekocht. Erste nachweisbare Strukturen einer Küche fand man bei Ausgrabungen in Jericho aus der Zeit um 8350 v. Chr. bis 7370 v. Chr., heißt es bei Wikipedia. Das ist sehr lange her und doch haben selbst unsere Großmütter noch das Brot für die Familie im gemeinsamen Ofen des Dorfes gebacken.

In Deutschland werden heute für den Neukauf einer Küche zwischen 2 000 und 20 000 Euro ausgegeben. Bei der klassischen Einbauküche liegen die Ausgaben im Schnitt bei 7 000 Euro. Und selbst da kann man laut Homepage des „Käuferportals“ mit den richtigen Kaufentscheidungen noch bis zu 1 500 Euro günstiger werden. Mit der Wahl der Elektrogeräte, Schränke, Arbeitsplatten, Schubladen und der Beleuchtung bestimmt man also nicht nur, wie die Küche letztendlich aussieht. Und doch sollte bei allen Budgetfragen Ihr eigenes Küchenleben an erster Stelle stehen. Vielleicht helfen die neuesten Trends dabei, zu verstehen, was man will und wie man kocht.

Smarte Küche, Smarter Kochen

Das Wörtchen „Smart“ kommt aus dem Englischen und steht für schlau, gewitzt und schnell. In Verbindung mit der Küche und dem Kochen bedeutet dies wie bei Smart Home, dass Geräte zum Einsatz kommen, die Computerfunktionen haben, internetfähig und vernetzt sind. Dazu gehören zum Beispiel die neuesten Kühlschränke von Siemens. Sie haben Kameras mit an Bord. Jedes Mal, wenn jemand die Kühlschranktür öffnet, wird ein neues Foto vom Inneren gemacht. Mit der Home Connect App auf Ihrem Handy haben Sie darauf Zugriff und können so feststellen, was in Ihrem Kühlschrank alles fehlt. Egal, wo Sie gerade sind. Ein weiteres Beispiel für die Vernetzung ist der Gourmetsensor der Firma Cuciniale, der ebenfalls in Verbindung mit einer App auf Ihrem Smartphone oder Tablet arbeitet. Der Gourmetsensor kommt mit dem zu bratenden Fleisch in die Pfanne und die App zeigt an, wann es perfekt zubereitet ist, nachdem Sie vorher die Art der Zubereitung ausgewählt haben. Hier scheint es so, als ob die Zukunft der Küche nicht mehr ganz so sinnlich ist. Wenn da nicht die Kochtrends wären. 

Kochtrends werden zu Küchentrends

Neue Ernährungstrends in den Großstädten bestimmen den Lifestyle zunehmend, werden zu einem Wirtschaftsfaktor. Es geht um die Gesundheit, um Nachhaltigkeit, Genuss und Lebensmittelqualität. Und um einen neuen Wachstumsmarkt. Jetzt hat der Küchenproduzent von formquadrat in Kooperation mit einem Kochprofi eine Modell-Küche entworfen, die das Thema Kochen von Grund auf neu denkt. Vooking. 2014 gab es dafür bereits den Internationalen Design Award. Mehr Platz für Gewürze, integrierte Waage, Mörser und Getreidemühle und Indoor Farming für den Anbau eigener Kräuter – das sind nur einige Highlights dieser neuen Küchen. Bisher gibt es sie leider nur als Prototyp, aber es sind eine ganze Reihe Kooperationspartner mit an Bord, um bald in Serie zu gehen. 

Und nicht nur bei Vooking halten immer mehr modernere Kochmethoden und Zubehör Einzug. Schneller kochen, schonender kochen, ohne Wasser kochen. Vom Dampfgarer bis hin zum Molekularküchen-Starterset ist alles zu haben. Nur der sich selbst reinigende Entsafter ist noch nicht erfunden worden. Bei all der Technik darf man aber eines nicht vergessen, auch vor Küchen macht die Gentrifizierung nicht halt. Ganz plötzlich, als auch der Letzte eine Espressomaschine zu Hause hatte und noch versuchte, die Gebrauchsanweisung zu verstehen, setzte die Filtertüten-Kaffee-Bewegung wieder ein. 

Wieso manche Küchentechnik verhindert, dass es beim Kochen nicht nach Essen riechen darf, ist auch schwer zu verstehen. Kein Rosmarin, kein Zimt, kein Thymian, kein Zwiebelchen liegt in der Luft und kein Bratenduft zu Weihnachten? Unvorstellbar. Denn sind es nicht die Gerüche, die uns Appetit machen? Und ist es nicht die Nase, die letztendlich den Geschmack erst möglich macht?

Die Frage der Fronten 

Maschinen in der Küche sind Platzfresser. Deshalb bemühen sich Küchenhersteller schon lange, diese zu integrieren oder ganz hinter Fronten zu verstecken. Dabei wird das Thema Sicherheit nach wie vor groß geschrieben. Scharfe Kanten sind tabu, Griffhöhen können angepasst werden und Kindersicherungen sind nicht nur an Herden und Backöfen selbstverständlich. Außerdem kommen heute neue Wohnbereiche für das Küchenleben hinzu, die früher undenkbar gewesen wären. In Gärten oder auf Dachterrassen zum Beispiel. Entsprechend müssen die Oberflächen geschaffen sein. Strapazierfähig, hochwertig und individuell, für drinnen und für draußen. Von Popstahl bis Bambus ist alles zu haben. Bunt und nachhaltig sind die neuen Küchenfronten, ganz wie das Leben vor ihnen. 

Offene Küchen im Berliner Durchgangszimmer

Eine offene Küche war schon immer das bessere Wohnzimmer. Beliebt bei jungen Familien und Wohngemeinschaften sorgt das offene Küchenleben für das perfekte Familienfeeling, Raum- und Zusammengehörigkeitsgefühl. Früher war eine offene Küche schnell geschaffen – Tür aushängen, fertig. Heute zieht man mit der Küche in der eigenen Wohnung um. Und das hat seine Gründe. Aufgrund der steigenden Mietpreise in Berlin sind Umzüge in eine größere Wohnung undenkbar. Was also tun, wenn die Kinder größer werden oder die Familie oder Wohngemeinschaft gar Zuwachs bekommt und ein weiteres abgeschlossenes Zimmer benötigt wird? Oft haben gerade in Berlin die Altbauwohnungen Durchgangszimmer. Dorthinein zieht die moderne Küche. 

Der alte Küchenraum wird renoviert, die Tür wieder eingehängt und fertig ist die perfekte Wohnung für die veränderte Lebenssituation mit weiterhin einer offenen Küche als Lebensmittelpunkt und einem abgeschlossenen Zimmer mehr. Naja, ganz so einfach ist es auch nicht. Wasseranschlüsse müssen da sein und die Einwilligung der Wohnungseigentümer, falls Sie es nicht selbst sind. 

Modulküchen

Modulküchen sind angelehnt an Industrieküchen entwickelt worden und seit längerem im privaten Umfeld zu entdecken. Jede einzelne Küchenfunktion ist in einem Modul zu finden und kann fast beliebig kombiniert und ergänzt werden. Man baut sich quasi seine eigene Kochwerkstatt ganz nach den aktuellen Bedürfnissen und kann sie ein Leben lang verändern. Das macht ihren Reiz aus. Sie sind schnell einsatz- und umzugsbereit und in fast jeder Preisklasse zu haben. Modulküchen sind nicht nur bei jungen Leuten beliebt, sondern auch bei Leuten, die eine Outdoorküche suchen. 

Outdoorküchen

Nach wie vor ungebrochen ist der Wunsch, draußen zu sein. Zwischen Bäumen und Blumen unter freiem Himmel mit Freunden reden, Wein trinken, essen oder feiern, was gibt es Schöneres? In Berlin tut man das auf Balkons und auf Dachterrassen, im Garten oder an der Spree und auf den Terrassen vor den Restaurants. Da auch hier der Essenswandel im vollen Gange ist, also weg vom Fleisch und weg vom Einweggeschirr, braucht man heute mehr als einen Grill für die perfekte Party. Outdoorküche heißt der neue Trend. Mit ihr kann jeder Wunsch erfüllt und zum Schluss gemeinsam gespült werden. Außerdem spart man sich den langen Weg zurück in die Küche und ist den ganzen Abend über der vollendete Gastgeber.

Outdoorküchen kann man in Marke Eigenbau herstellen, Module von Herstellern verwenden oder sie sich maßgeschneidert anfertigen lassen. Es sind Sommerküchen, aber man kann ja im Winter schon mal anfangen zu planen.

Alles in allem bestimmen Wertesysteme und persönlicher Geschmack, Alter und Budget, Wohnumfeld und Lebenssituation, Essensvorlieben und Technikanspruch, Funktion und Glaube unsere Küchenbauentscheidungen. Und doch gibt es bei all den Trends und Möglichkeiten Leute, die schon die perfekte Küche haben, aber nicht kochen. Und es gibt Leute, die haben die kommunikativste Küche und wechseln kein Wort. Deshalb sollte der letzte Trend der wichtigste auf Ihrem Weg zur Traumküche sein:

Küsschen am Herd

Wenn also alle Fronten passen, die Technik sie unterstützt, der Weg von der Arbeitsfläche zum Mülleimer, zum Herd und zum Kühlschrank ideal ist und der Blick nach draußen ebenso: Dann könnte es sein, dass Sie schon die perfekte Küche für sich gefunden haben. Wenn es dann noch Küsse in der Küche gibt und Freunde auch, dann, ja dann kann ganz nach Grimms Dornröschen ein wirklicher Traum wahr werden: „... und das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu brutzeln; und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig. … und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.“

Barbara Sommerer

 

64 - Herbst 2015