Heilung aus dem Nichts

Sie ist eine Placebo-Geschichte, wie sie im Buche steht: Lessings Ring-Parabel. Welches ist der echte Ring von dreien? Der weise Richter urteilt: „Es eifre jeder seiner unbestochnen/ Von Vorurteilen freien Liebe nach!/ Es strebe von euch jeder um die Wette,/ Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag/ Zu legen!“   

In der Quintessenz heißt das: Glaube an den Ring und handle danach, dann wird er seine wundersame Wirkung ganz von selbst entfalten. Ganz ähnlich  verhält es sich mit einem Scheinmedikament, einem Placebo. Übersetzt heißt der lateinische Begriff nichts anderes als „ich werde gefallen“.  Demzufolge geht es auch beim medizinischen Placebo-Effekt um  Glauben, Vorstellung und innere Überzeugung.  Professor Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Berliner Charité formuliert es so: „Der Placebo-Effekt wird als unspezifischer therapeutischer Effekt angesehen. Er lässt sich nicht auf bestimmte Substanzen und konkrete therapeutische Verfahren zurückführen, sondern umfasst Wirkungen, zu denen sowohl der Arzt selbst als auch der Patient beitragen, durch ihre jeweilige Einstellung, Empathie, Erwartungshaltung und weitere psychosoziale Faktoren.“

Placebos werden heute vor allem in pharmakologischen Kontrollverfahren eingesetzt. Doppelblindstudien sollen feststellen, wie wirkungsvoll ein Medikament ist. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Placebo-Effekt überaus wirkmächtig ist, die inneren Heilkräfte des Menschen zu stimulieren. Denn die Medikamentenstudien zeigen oft erstaunliche Ergebnisse. Die Schein-Medikamente haben oft eine ähnliche Wirkung wie die tatsächlichen Arznei-Stoffe. Eine britische Studie zu Antidepressiva etwa hat gezeigt, dass sich die Wirksamkeit des wirklichen Arzneimittels bei leichten und mittelschweren Depressionen nicht signifikant vom Placebo-Niveau unterscheidet. Nur bei schweren Depressionen ist das tatsächliche Medikament dem Placebo überlegen. Eine andere Studie, veröffentlicht im Fachmagazin „Lancet“, kommt aus Australien. Darin wurde nachgewiesen, das Schmerzmittel Paracetamol hilft bei akuten Rückenschmerzen nicht besser als Placebo-Medikamente. Ergebnisse, die Schulmediziner lange zweifeln ließen. Mittlerweile ist unumstritten: Psychische und körperliche Veränderungen treten ein „aufgrund einer symbolischen Bedeutung, die man einem Ereignis oder einem Objekt in einem heilenden Kontext zuschreibt“, so formulierten es die US-amerikanischen Placebo-Forscher Howard und Daralyn Brody. 

Am besten untersucht ist die Wirkung von Placebos tatsächlich bei Schmerzpatienten. Neurologen konnten bestätigen, dass der Schmerzreiz auf dem Weg zum Gehirn im Rückenmark gestoppt wird. Dabei zeigte sich, Placebos wirken umso besser, je mehr therapeutischer Aufwand an den Tag gelegt wird. Das Verblüffendste, sogar Scheinoperationen können wirksam sein. Eine bekannte Studie zu diesem Thema ist die des amerikanischen Chirurgen Bruce Moseley. Er hatte zahlreiche ältere Menschen mit Knie-Arthrose durch Arthroskopien behandelt. Irgendwann ließ er es darauf ankommen. Er inszenierte die Operationen nur. Der Hälfte der Patienten ritzte er nur die Haut ein, anstatt sie wirklich zu operieren. Das erstaunliche Ergebnis, die zum Schein operierten Menschen waren mit dem Behandlungserfolg im Anschluss genauso zufrieden wie die tatsächlich Operierten. Ein klassischer Placebo-Effekt. Viele Kniegelenks-Operationen sind nicht wirklich notwendig, das konnte hierdurch auch gezeigt werden.  Manchmal heilen schon weniger invasive Therapien oder die Zeit. 

In genau diese Richtung gehen auch randomisierte kontrollierte Studien, die vor einiger Zeit am Institut für Sozialmedizin der Berliner Charité zum Thema Akupunktur bei Schmerzpatienten durchgeführt wurden. Prof. Stefan Willich berichtet von den überraschenden Ergebnissen: „Wir haben verschiedene Gruppen gebildet, eine Gruppe wurde mit ‚richtiger‘ Akupunktur behandelt, eine andere nur mit Scheinakupunktur an den ‚falschen‘ Akupunktur-Punkten. Dabei war erstaunlich, wie groß die unspezifischen Effekte waren. Beide Akupunkturgruppen haben fast genauso gut abgeschnitten“. Deutlich schlechtere Ergebnisse zeigten sich allerdings bei einer Kontrollgruppe, die nur mit Medikamenten versorgt wurde. Für die gesetzlichen Krankenkassen setzte damit ein Umdenken im Bereich Naturheilverfahren ein. Menschliche Zuwendung trägt dabei ganz entscheidend zur Heilung bei. Das haben auch Studien zur Homöopathie bestätigt. Ein großer Teil des Heilungserfolgs kommt durch die zeitaufwendigen Vorgespräche zustande. Der Mensch fühlt sich als ganzer gesehen und wahrgenommen. Ein tiefes Vertrauen in die Behandlung stellt sich ein. Genauso ist aus der Psychotherapie bekannt, welchen Einfluss die Beziehung zum Therapeuten auf den Behandlungserfolg hat, ganz unabhängig von der jeweils angewandten Methode. Empathiefähigkeit, vielfach sogar Humor kann in diesem Zusammenhang Heilung befördern.

Wie die Beispiele zeigen, muss man vom Placebo-Effekt in der Mehrzahl sprechen, denn es gibt verschiedene Placebo-Effekte. Die Untergruppen wären der Placebo-Effekt in Bezug auf die biomedizinische Behandlung, daneben gibt es Effekte auf die psychotherapeutische Behandlung und die Selbstheilung, etwa durch Meditation. Eine in den letzten Jahren viel größere Offenheit der Mediziner diesem Ansatz gegenüber konstatiert auch Prof. Stefan Willich: „Wir sind mittlerweile so weit, dass wir in der Ärzteschaft überlegen, wie wir den Placebo-Effekt zugunsten der Patienten gezielter nutzen und in der Praxis einsetzen können.“   

Karen Schröder

 

64 - Herbst 2015