Gemeinsam Eisern

Der 1. FC Union ist der etwas andere Fußballclub Berlins. Mittlerweile hat Cristiano Ronaldo seine Verblüffung überwunden. Lange wunderte sich Europas mehrfacher Fußballer des Jahres, dass Toni Kroos als sein Teamkollege bei Real Madrid nach den meist siegreichen Partien der „Königlichen“ nicht zuerst nach den anderen Resultaten der spanischen Meisterschaft forschte. Auch die deutsche Bundesliga mit Ex-Club Bayern München hatte es Kroos nicht angetan, ebensowenig sein Heimatverein Hansa Rostock. Seit einiger Zeit aber weiß der Portugiese Ronaldo, warum Kroos schnell das Ergebnis von Union Berlin wissen will: Beim hauptstädtischen Zweitligisten steht seit dieser Saison sein 25 Jahre alter Bruder Felix unter Vertrag.

Der Unterschied erscheint riesig: Hier die Millionen-Stars des ehrfurchtsvoll „Weißes Ballett“ genannten vielfachen Europapokalsiegers, da die „Graue Maus“ des deutschen Fußballs, die zwar 1923 einmal das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft erreicht hatte, aber nun scheinbar seit Jahren im Schatten der großen Berliner Vereine steht. In Zeiten der DDR galt der zehnmalige Meister BFC Dynamo als Aushängeschild an der Spree, im geeinten Deutschland beansprucht der von den Unionern durchaus geachtete Bundesligist Hertha BSC diese Position für sich. Aber das Wort „scheinbar“ steht berechtigt an dieser Stelle, denn einem eingefleischten Fan des 1. FC Union würde es niemals einfallen, sein Herz an einen anderen Fußballclub zu verschenken. Union ist Kult.

Diesen Ruf pflegt man. Und zwar ideenreich, offensiv und mit einer Fairness, die in der viel zu oft mit Makeln versehenen Fan-Szene ihresgleichen sucht, aber nicht findet. Es sein denn, mit Abstrichen beim gleichfalls im Schatten eines übermächtigen Ortsrivalen dümpelnden FC St. Pauli, mit dessen Anhängern die „Eisernen“, wie sich die Unioner selbst nennen, seit Jahren eine Art Freundschaft verbindet.

Beim 1. FC Union sind die Fans nicht eine Rubrik auf der Internet-Plattform oder ein Anhängsel für den Stadion-sprecher, wenn es in anderen Arenen Aufforderungen zur La-Ola-Welle gibt oder Beifall für irgendein Ereignis erheischt werden soll. Bei Union sind die Fans der Verein, die Kneipe „Elfmeterpunkt“ Anlauf nicht nur zu den Punkt- oder Pokalspielen.

Apropos Pokalspiele. Hier schrieben die im Stadtteil Köpenick beheimateten Unioner ein Kapitel, das im deutschen Fußball seinesgleichen sucht. An einem eklig nassen und kalten Februar-Dienstag des Jahres 2001 sahen sich die Verantwortlichen des damaligen Drittligisten gezwungen, den Pokal-Schlager gegen Erstligist Borussia Mönchengladbach wegen der permanent wachsenden Schneedecke abzusagen. „Nicht mit uns“, sagten die Fans und zogen in Scharen gen Wuhlheide, um das pappige Weiß zu beseitigen und die Fläche bespielbar zu machen. „Wir wussten, dass unsere kampfstarken Jungs auf solchem Untergrund eine Chance gegen Borussia haben. Deswegen haben wir den ganzen Vormittag geschippt“, erinnert sich Diana Ruff, die als einzige Frau unter mehr als 100 Männern dem Schiedsrichter die Ausrede von der Unbespielbarkeit des Platzes vermasselte. Union besiegte die Rheinländer im Elfmeterschießen und zog ins Pokalfinale ein, wo der 0:2-Verlierer selbst von den seinerzeit triumphierenden Schalker Fans gefeiert wurde.

Die Neuenhagener Familie Ruff ist eines der vielen Paradebeispiele für wahre Fankultur der Köpenicker. Selbstverständlich weht im Garten die rot-weiße Vereinsfahne, und die mittleren Buchstaben der Nummerschilder am Auto haben EU – für Eisern Union. Jahrelang richtete man die Urlaubspläne so ein, dass man die Profis zu den Trainingslagern und zur Saisonvorbereitung begleiten und beobachten konnte. Und Enkel Jonas wurde bereits am Tag seiner Geburt mit einem Mitgliedsausweis ausgestattet.

Solcher Zusammenhalt führte die Eisernen, deren Schlachtruf bereits aus den 1920er Jahren stammen soll, in der Vergangenheit durch dick und dünn. In der DDR von den Funktionä-ren ungeliebt, wurde den Köpenickern für die Ortsderbys gegen den verhassten BFC Dynamo sogar das Heimrecht in der engen Arena ohne Laufbahn aberkannt. Das kam daher, weil Dynamo-Gönner und -förderer Erich Mielke die 0:1-Niederlage seiner Schützlinge im einzigen Punktspiel im Stadion „An der Alten Försterei“ nicht verwinden konnte und für die Derbys das damalige „Stadion der Weltjugend“ als Austragungsort befahl.

Auf Stasi-Chef Mielke geht auch eine weitere bittere Stunde für die Union-Anhänger zurück. Als der Underdog 1968 sensationell das Pokalfinale der DDR gegen den FC Carl Zeiss Jena gewann und zu seiner Europacup-Premiere gegen den jugoslawischen Verein FK Bor ausgelost wurde, verdarb der Parteifunktionär mit dem Hinweis auf den „Prager Frühling“ den Köpenickern ihren internationale Pokal-Einstand.

Seitdem sitzt die Abneigung tief gegen Befehle von oben und Clubs, die von einem reichen Mäzen genährt werden. Beim ebenfalls verhassten westlichen Stadt-Rivalen Tennis Borussia, der während des mühsamen Zusammenwachsens des Berliner Sports eine mangelhafte Bankbürgschaft der Unioner verpetzte, die dem Verein einen Aufstiegsplatz in die 2. Bundesliga sicherte, verfolgten deshalb einst Tausende „Eiserne“ das Spiel außerhalb des Stadions. Nach dem Motto „Keine Mark den Millionarios“ spendeten sie das gesparte Eintrittsgeld in zusammen fünfstelliger Höhe der eigenen Nachwuchs-Abteilung.

Zehn Jahre später brachten die Fans die eigene marode Arena in Selbstinitiative auf Vordermann und ließen bei der WM 2014 mit einer weiteren einzigartigen Aktion aufhorchen. Auf einer Riesen-Leinwand wurden die Spiele aus Brasilien übertragen, und Union-Fans verfolgten sie auf dem Rasen. Dort saßen sie auf Hunderten eigenen Sofas, die sie von daheim in die Arena geschleppt hatten. Dass nach einer Woche böswillige Eindringlinge ein paar der Sitzmöbel stahlen und andere zerstörten, schweißte die Anhänger nur noch mehr zusammen.

Landesweit berühmt ist das Köpenicker Stadion durch die Aktion einen Tag vor Heiligabend, an dem das traditionelle Weihnachtssingen stattfindet. Aus einer Bierlaune angeheiterter Fans, die seinerzeit in die Arena eindrangen und auf dem Rasen Weihnachtslieder sangen, dafür sogar mit der Polizei aneinandergerieten, ist ein Kult geworden. Mittlerweile ist der Andrang zu diesem Ereignis so groß geworden, dass alle Medien darüber teilweise live berichten, und sogar Eintrittskarten für die Sänger verkauft werden müssen. Trotzdem sind die 28 500 Tickets jeweils sofort vergriffen.

Nun sind die wirren Zeiten vorbei und der Verein strebt sogar den Aufstieg in die Bundesliga an. Daran hatte vor 70 Jahren, als die komplette Mannschaft in den Westteil der Stadt überlief und unter dem Namen Union 06 weiterspielte, der Heimatverein plötzlich ohne Fußballer dastand, niemand gedacht. Doch alle Klippen sind umschifft und überstanden. Gerade deswegen halten die Rot-Weißen, die wegen der Herkunft aus der Arbeiterklasse in der Anfangszeit in blauer Kluft spielten, an den Ursprüngen eisern fest. 

Lydia Mendon

69 - Winter 2017
Sport