Im Reich der Schneekönigin

Für Abenteurer bietet die norwegische Reederei Hurtigruten ein spezielles Winterprogramm vor dem Bordgang in Kirkenes am Polarmeer. 

Der Papst würde nicht mal ein Navi brauchen. Wenn Franziskus auf dem Petersplatz von Rom in sein Papamobil steigt, muss er einfach der Ausschilderung der Europastraße E 6 folgen. Nach genau 5 102 Kilometern könnte der Heilige Vater das Gefährt in Kirkenes wieder verlassen und mit etwas Geduld das Nordlicht sehen sowie die nahezu unberührte norwegische Winterlandschaft genießen.

Weil dieser publikumswirksame Trip des Pontifex auf der längsten durchgehenden Fernverkehrsstraße des Kontinents jedoch zu unwahrscheinlich erscheint, haben sich die Hurtigruten anderes einfallen lassen, um zur kalten Jahreszeit Passagiere auf die südwärts führende Route der „schönsten Seereise der Welt“ zu locken. Mit der Themenreise „Nordisches Winterabenteuer“ verbringen sie  Zeit in freier Natur und können den Daheimgebliebenen Erlebnisse schildern, die anderswo auf dem Kontinent in dieser Kompaktheit nicht möglich sind.

Los geht es nach der Landung in Kirkenes mit einem Mittagessen der kulinarischen Extraklasse. Die Königskrabben kommen aber nicht fertig zubereitet auf den Teller, sondern müssen unter fachkundiger Anleitung selbst aus einem Seitenarm des Fjords gezogen werden. Diese riesigen Tiere, von der Sowjetarmee einst aus dem Chinesischen Meer als Nahrungsreserve um Murmansk angesiedelt, haben hier keine natürlichen Feinde und entwickeln sich zur millionenfachen Plage. Deswegen werden sie – nach EU-Richtlinie sinnloserweise streng kontingentiert – als Delikatesse gefischt. Nach zwölf Minuten Kochzeit schmecken die Beine der Krabben – der Rest ist ungenießbar – mit frischem Brot und etwas Zitrone vortrefflich. Allerdings sind leidlich Kraft und Geschick nötig, das weiße Fleisch mittels einer normalen Schere aus der steinharten Kruste zu pellen.

Das Fangen der Königskrabben stellt inzwischen einen einträglichen Ableger des Fischfangs in Kirkenes dar und ist neben dem Tourismus und dem Erzabbau, der die Gegend einst prägte, Haupterwerbszweig. Bei einer Arbeitslosenquote von 0,6 Prozent lockt der von derzeit 4 000 Menschen bewohnte Ort zahlreiche Einwanderer aus ganz Europa. „Ich würde nie wieder von hier weggehen“, schwört Michael. Der 30-Jährige ist vor drei Jahren aus Karlsruhe in den Hohen Norden gezogen und bewohnt eine winzige Hütte direkt am Fjord. „Hier achten die Leute nicht auf Äußerlichkeiten. Man arbeitet miteinander und feiert miteinander. Egal, ob der andere Akademiker ist oder Königskrabben fängt“, erklärt der Fremdenführer und bremst seinen Kleinbus ab. „Fußgänger haben im Winter immer Vorrang“, sagt er. „Die stehen schließlich in der Kälte und wir sitzen im Warmen.“ Auch eine Art der Verkehrsführung, die im Raum Kirkenes ohne jede Ampel und ohne Vorfahrtsschilder auskommt.
Schilder und Verbote zur Genüge bekommt man jedoch am nächsten Vormittag zu sehen, wenn die Reise zur nördlichsten Grenze des Schengen-Raums führt. Zwischen Kirkenes und dem etwa 200 Kilometer entfernten Murmansk gibt es einen streng bewachten Grenzübergang, der nach dem Ende des Kalten Krieges mittlerweile von mehr als 120 000 Menschen pro Jahr passiert wird. Mehr noch: 400 Einwohner von Kirkenes sind inzwischen Russen, die hier Arbeit gefunden haben und naturgemäß öfter in die alte Heimat pendeln. Für sie sind alle Straßen und Sehenswürdigkeiten der Stadt auch in kyrillischen Buchstaben beschriftet. Die Freundschaft der Russen und Norweger hoch im Norden ist nicht nur in der Tradition der samischen Ureinwohner verwurzelt. Sie gründet sich auch auf die Hilfe im Zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion den Einwohnern von Kirkenes und Umgebung Unterstützung gewährte gegen die 100 000 hier stationierten deutschen Soldaten.

Bevor die nächste Übernachtung ansteht, wartet ein weiteres, in Deutschland kaum mögliches Erlebnis. Mit einem von acht Huskies gezogenen Hundeschlitten geht es zwei Stunden durch unberührte Natur. Schnee, der so weiß ist, dass eine Sonnenbrille dringend nötig wird, prägt das Bild vor den unberührten Flächen und den dichten Wäldern, die hier den Beginn der sibirischen Taiga bis hin nach Wladiwostok markieren. Mit wenigen Kommandos dirigiert Robin die Hunde durch die Wildnis. Seine Antworten in perfektem Deutsch sind kein Zufall. „Ich habe zu Hause alle möglichen Jobs probiert, aber es gibt nichts, wo man so unabhängig ist und so verbunden mit der Natur wie hier“, erklärt der Hundeschlittenführer.

Die Touren mit den 125 Huskie-Mischlingen werden wie auch die Königskrabben-Safari gemeinsam mit dem Schneehotel Kirkenes vermarktet. Alle 25 Zimmer und vier Familien-Suiten sind aus Schnee gebaut. Der Einheimische Köre Tannvik kam vor acht Jahren auf die Idee. Seitdem ist das Haus immer gut gebucht. Alljährlich im November werden riesige Ballons aufgeblasen, mit Schneekanonen besprüht und dann ohne Luft wieder herausgezogen. In die Rohbauten kommen chinesische Eiskünstler, die innerhalb von zwei Wochen für die einmalig schöne Innendekoration sorgen. „Jedes Zimmer ist individuell gestaltet, und es ist ein Jammer, dass das ganze Hotel nur bis April zu buchen ist, weil es dann in der Sonne komplett wegschmilzt“, bedauert Christine Körner, die aus Deutschland in die Finnmark umgezogen ist.
Für die Übernachtung in dem stets minus vier Grad kalten Zimmer hat die einstige Nürnbergerin als wichtigsten Rat: „Vor dem Schlafengehen vier- oder fünfmal auf die Toilette. Es macht keinen Spaß, mitten in der Nacht aus dem Schlafsack zu krabbeln und über das Eis aufs Klo zu schlittern.“

Zum Schlafen  krabbelt man in einen extrem dicken Schlafsack, in dem man sich nach Ansicht der Norweger am besten nackt begeben sollte. „Der Schlafsack wärmt dich nicht, du wärmst ihn, und er lässt die Wärme nicht wieder weg“, bekommt der Gast als Hinweis.

Trotzdem ist die heiße Dusche nach der Übernachtung eine Wohltat, wie der beim üppigen Frühstück in dem benachbarten festen Gebäude gereichte Tee oder Kaffee. Denn trotz der Naturverbundenheit muss der feste Häuser gewohnte Schlafgast mit zwei Dingen zurechtkommen: Alle Räume sind aus Sicherheitsgründen immer in diffuses buntes Licht getaucht und es gibt keine Fenster. „Ich würde es nicht noch einmal machen. Aber ich würde es bereuen, wenn ich nicht einmal in so einem Eishotel geschlafen hätte“, sagt Rune Algren, der mit seinen Kollegen aus Oslo eine Suite bewohnte, mit strahlenden Augen und einem Becher Tee in der Hand.

Nach dem Transfer vom Hotel zum Anleger der Hurtigruten begrüßt der Kapitän die Neuankömmlinge in Richtung Süden. Nach zwei Tagen mehr oder weniger in der Natur der Finnmark sollte man sich an dem überaus üppigen Buffet zum Mittag aber nicht übernehmen. „Durchschnittlich nimmt der Reisende auf einer Fahrt der Hurtigruten um etwa vier Kilo zu“, verkündet der Kapitän und weist erst einmal den Weg in den Speisesaal.

Hans-Christian Moritz

 

 

73 - Winter 2018