Das Schaf im Mittelpunkt

„100 Prozent Wolle“ – eine Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen. Strickkurse boomen, Nähzirkel sind gut besucht. Es wird gewebt und ge-bastelt, gefilzt und gestickt. Wer sich auf traditionelles Handarbeiten  versteht, hat gute Chancen, seine Zeit mit schönen Dingen zu füllen. Entspannung inklusive. Internetbasare, Konzeptstores und Wochenmärkte zeigen, was landauf, landab und länderübergreifend hergestellt wird.  Designer folgen diesem Trend und überführen traditionelle Techniken und Muster in Hightech-Verfahren. Sie sind die Perlentaucher, die alte Kulturtechniken aus Schwellenländern und ländlichen Gebieten heben und bewahren. Der Griff in die Schatztruhe alten Wissens und Könnens verbindet sich so mit Zukunft. Das Museum Europäischer Kulturen hat sich mit dem Thema Wolle einem dieser Aspekte angenommen und bietet auch Workshops an.

Derweil die Wollgewinnung für die Handarbeit im Fokus ist, wird die nächste Schau zur industriellen Verarbeitung schon vorbereitet. Im Mittelpunkt steht das Schaf! Ein Herdentier, das dem Menschen seit mehr als 7000 Jahren  Fleisch, Milch und Fell  liefert, ein jahrtausendealter Weggefährte – und religiöses Opfertier. Der Schafalltag changiert zwischen geliebtem Haustier auf der Wiese am Hof, dem Weideschaf, das zur Landschaftspflege willkommen ist, den Hochlandschafen in Schottland und anderen Gebirgsregionen wie einer kaum erträglichen Existenz in Massentierhaltungen. Bei diesem Stichwort geraten, neben hausgemachten  Zuständen in Europa, vor allem Australien und Neuseeland in den Fokus der Kritik. Dem Tierschutz ist hierzulande ein Grundgesetzartikel gewidmet und Nachfolgebestimmungen gibt es seitenlang samt europaweiter Registrierungspflicht für Huftiere.  Tierschutz und Marktinteressen laufen jedoch häufig auseinander.  

Ein drei Meter hohes Schaf nebst Strickleiter von Margaret Schlenkrich steht daher auch inmitten der Ausstellung, die sich mit Herkunft, Tradition und Ökonomie der Wollproduktion und -verarbeitung befasst. Die  Bühnenbildnerin hat das Schafobjekt für die Ausstellung „100 Prozent Wolle“ mit diversen Fellen aller möglichen auf dem alten Kontinent vorhandenen Schafarten bedeckt. Das kinderfreundliche Spiel- und Klettertier  symbolisiert das, worum es geht, um Tradition und Vielfalt der Schafzucht und Wollgewinnung von Schottland bis Rumänien, von Estland bis Portugal. Die Ausstellung wurde mit Studenten des Studienganges Bühnenbild/Szenischer Raum der TU Berlin entwickelt. Unter der Leitung des Szenografen Johann Jörg  entstanden die thematischen Räume, wozu auch eine mit Schafwolle gedämmte Behausung, eine Schäferausstattung  sowie die Installation der „sprechenden  Kleiderstange“ gehören.  Hier erzählen Pullover und Pullunder, Strickjacken und Stolen per Kopfhörer ihre Entstehungsgeschichten.

Solide geformte Handkarden, wie die Wollkratzer zum Auskämmen der Rohwolle  fachmännisch genannt werden, kunstvoll verzierte Spindeln bezeugen die Wertschätzung der häufig von Frauen ausgeführten Handarbeit.  Die Werkzeuge aus der Türkei,  aus Russland oder Deutschland  zeigen mit ihren Verzierungen, nicht allein das Entstehende soll nützlich und schön sein, sondern auch das Werkzeug selbst.

Nicht nur schauen! Die Workshops für die ganze Familie und für Besucher verschiedener Herkunft sind eine Einladung, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und unter professioneller Anleitung häkeln und stricken zu lernen. Eine Reverenz an den zeitgenössischen Megatrend: Handgemachtes. Die Kuratorinnen haben die Mitmachmöglichkeit ins Zentrum der Ausstellung gerückt, die eine erste Hinführung zum Thema Textil und überhaupt ein Lockruf ins Museum sein soll.

Elisabeth Tietmeyer ist stolz auf ihr Haus. „Wir sind dann mal MEK!“, so wirbt das Museum im Südosten Berlins für seine Wahrnehmung in den Zeiten des großen Umzugs von Dahlem nach Mitte. Das MEK mit seiner Ausrichtung auf die europäischen Alltagskulturen bleibt im Bruno-Paul-Haus und in Nachbarschaft zum Botanischen Garten und zur Freien Universität. Das Asiatische und das Ethnologische Museum packen derweil ihre Artefakte für das Humboldt-Forum.

Anita Wünschmann


Information

100 Prozent Wolle
Sonderausstellung im Museum
Europäischer Kulturen
Arnimallee 25, 14195 Berlin
bis 23. Juni 2019

73 - Winter 2018
Kultur