Die Leute werden es lieben

Stephan Graf von Bothmer, Komponist, Pianist und Liebhaber alter Filme, hat die Stummfilm-Konzerte erfunden und vermarktet sich selbst zugunsten seiner Kunst. Er ist der klassische Selfmademan – von Kunst bis Werbung alles aus seiner Hand. Sein Enthusiasmus verblüffte so manchen Veranstalter.

Carsten-Stephan Graf von Bothmer –  bis ins 12. Jahrhundert  reicht seine Familiengeschichte zurück und Wikipedia verzeichnet ihn an 41. Stelle unter „Bekannte Familienmitglieder“. Der Stammsitz des Adelsgeschlechts war Klütz im Mecklenburgischen – und das 200 Jahre lang. Nach 1945 wurde die Familie enteignet und ein Altersheim zog ein. Nach der Wende stand das Anwesen zum Verkauf – für eine D-Mark. Aber die Sanierungskosten von letztlich 36 Millionen Euro überstiegen die Mittel des Adelsgeschlechts. Die barocke Schlossanlage in Klütz ist heute Eigentum des Landes Mecklenburg-Vorpommern, restauriert und Spielort der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern.  Die Musik hat Einzug gehalten. Ganz im Sinne von Stephan Graf von Bothmer, der findet das Schloss bodenständig und sehr edel. 

Stephan Graf von Bothmer ist Pianist, Komponist und seine Leidenschaft sind Stummfilme. Dafür hat er ein eigenes Genre erfunden, die Stummfilm-Konzerte. Er hatte anfangs überlegt, ob er sich ein Pseudonym zulegen soll. Für das Marketing sei der Name zu lang. Aber „Stephan Graf von Bothmer  Stummfilmkonzerte“  steht auf den Werbe-Plakaten. Bothmer weiß auch: Es erfordert Mut, mit seinem Namen und seiner Persönlichkeit so präsent zu sein. Es kann ja auch mal etwas schiefgehen. Eitel ist der jungenhaft wirkende Mann keineswegs, aber ein Macher seiner selbst, der vehement für seine Konzerte mit Film eintritt. Studiert hat er Musik und Mathematik.  Das passe aufgrund der klaren Strukturiertheit beider Fachgebiete sehr gut zusammen. Allerdings darf beides nicht zu starr gesehen werden, sagt er. Der Formalismus in der Musikwissenschaft hat ihn schon oft geärgert. „Der Sinn eines Musikstücks ist doch nicht in Stein gemeißelt“,  sagt er. Dass es einem dann an der Universität der Künste Berlin so schwer gemacht wurde, auch andere Sparten kennenzulernen, mal bei den Jazzern vorbeizuschauen oder den Dirigenten, ärgert ihn heute noch. Aber Berlin – das musste sein, Freiburg, wo er seine Studien begann, war zu beschaulich. Viel kennenlernen und möglichst quer in alle Richtungen zu denken, treibt ihn an und inspiriert ihn. In seiner Komponisten-Vita findet sich Rockmusik, ernste Musik, Ballett- und Filmmusik. Aber wirklich angetan haben es ihm die Musiken zu Stummfilmen. Da gibt es bereits musikalische Handreichungen – Versatzstücke aus Liedern, Opern und Konzertstücken – aus der Zeit, da die Schwarz-Weiß-Streifen die Kinosäle füllten. Doch da war wieder so eine Starrheit. Was zeigt uns der Film wirklich, was kann er uns zeigen, wenn wir ihn hinterfragen. Bothmer entwickelt seine eigene Art, Filme zu sehen und zu interpretieren – und das jedes Mal neu. Ein Beispiel: Dampfhämmer arbeiten auf Hochtouren. Der Pianist könnte dazu in die Tasten hauen, dass es dröhnt und die immense Kraft unterstreichen, oder er spielt etwas ganz Zartes, das unterstreicht, wie einschüchternd und verletzlich solch eine Kraft wirken kann. Da Bothmer live zum Film komponiert, kann er auch auf die Stimmung im Saal reagieren. Er hat immer auch ein Ohr im Publikum. Solch virtuose Arbeitsweise verlangt intensive Vorbereitung.  Begeistert erzählt er vom Horror-Film „Orlac’s Hände“ aus dem Jahr 1924. Ein Pianist hat bei einem schweren Unfall beide Hände verloren und ohne sein Wissen werden ihm die Hände eines hingerichteten Mörders angenäht. Panik macht sich breit, denn die Hände scheinen weiter morden zu wollen. Der Pianist verarmt und muss bei seinem Vater, mit dem er seit Jahren verfeindet ist, um Geld betteln. Er findet den Vater erstochen vor. Ein wahrlich gruseliges Psychogramm mit allen genregerechten Zutaten. Bothmer sah aber in dem Film noch etwas anderes: einen Vater-Sohn-Konflikt. Um dies wirklich zu ergründen, hat er mit seinem eigenen Vater drei Tage lang telefoniert.  So hat der Film ein anderes Gesicht bekommen. Dieses Ergründen, die Sache hin- und herzuwenden, erspüren:  Was haben die Macher einst gedacht? welchen Bezug könnte es zum Heute haben? und zu mir selbst? Das ist die Herausforderung. 

Bothmer könnte über jeden Film, zu dem er Musik gemacht hat – und es werden  über 1000 sein – viel und vor allem spannend erzählen. Die Suche  nach neuen, alten Filmen geht weiter. 

Zur Zeit gräbt er nach Werbefilmen. 

Stephan Graf von Bothmer ist Organisator und Macher in eigener Sache. Er muss sich um Filmrechte kümmern, Saalmieten verhandeln und Werbung und Öffentlichkeitsarbeit  machen, ein zähes und teures Unterfangen. Erst seit Kurzem hat er eine Mitarbeiterin. Er war überzeugt: Stummfilm-Konzerte werden die Leute lieben. Später waren sie ausverkauft. Nicht ohne Vergnügen erzählt er, dass er einmal bei einer großen Berliner Zeitung, die ihm kulturaffin schien, angerufen habe, um seine Konzerte anzukündigen. Kein Interesse. Zehn Jahre später war er auf der Titelseite dieses Blattes und man feierte ihn. 

Von dem spektakulären Erfolg in der Passionskirche war er selbst ein wenig überrascht und nun überzeugt, dass er genau diesen Weg weiterbeschreiten muss: Konzerte zum Film machen und den Macher dieses Unikats, Stephan Graf von Bothmer, vermarkten. Was ihm gut gelingt. Filmmarathon mit Ernst-Lubitsch-Filmen oder „Dick und Doof“,  Musik zu Fußballspielen in Echtzeit, Stummfilm-Festivals und vieles mehr. Und das Schöne ist, er macht alles mit Leidenschaft und viel Spaß.

Martina Krüger

78 - Frühjahr 2019
Kultur