Hauptsache Menschen

Helga Paris ist als Fotografin eine große Dokumentarin. Ihre in der Akademie der Künste gezeigten fast malerisch wirkenden Schwarzweißbilder aus 43 Jahren sind poetisch und erwecken Anteilnahme beim Betrachter.

Die Akademie der Künste in Berlin wird in diesem Herbst und Winter Fotografien von Helga Paris ausstellen. 275 Werke der 81-jährigen, allesamt in Schwarz-Weiß, umfassen einen Zeitraum von 43 Lebens- und Arbeitsjahren: Eindringliche und berührende Aufnahmen aus den Jahren 1968 bis 2011 spiegeln eine scheinbar endlos andauernde ostdeutsche Nachkriegszeit wider: Während im Westen bereits verkehrsfreie Fußgängerzonen die Innenstädte lahm legen, versinken Städte wie Halle in marodem Grau. Ob Metzger oder Literat, Helga Paris‘ Protagonisten posieren nie. Der von ihr eingefangene Ausdruck in den Gesichtern scheint für den Moment die Zeit anzuhalten.

„Hauptsache Menschen. Das war mein Interesse“, sagt Helga Paris. Mädchenhaft, zierlich und apart wirkt sie. Ihr kritischer Blick heftet sich fest auf das Gegenüber. Sie ist seit mehr als 50 Jahren im Prenzlauer Berg zuhause. Ihre Wohnung ist Lebensraum und Atelier zugleich. Der große Tisch zum Ausbreiten ihrer Arbeiten, die Dunkelkammer, das umfangreiche Archiv, die vielen an die Wand gepinnten kleinen Fotos sind ihre Zeitzeugen. Bald ein halbes Leben ist das Jahrhundertwendehaus Helga Paris‘ Mittelpunkt. Wie kein anderer Stadtteil hat sich der einstige Arbeiterbezirk seitdem gehäutet.

Helga Paris wird 1938 im pommerschen Gollnow (heute polnisch: Goleniòw) nördlich von Stettin als jüngstes von vier Kindern geboren. Sie wächst in Zossen auf, wohin die Familie während des Zweiten Weltkrieges flieht. In Berlin studiert sie Mode an der Ingenieursschule für Bekleidungsindustrie. Dort lernt sie auch ihren späteren Mann Ronald Paris kennen, der dort Zeichnen und Kunstgeschichte unterrichtet. Ihr gemeinsamer Sohn Robert wird 1962 geboren. Tochter Jenny kommt 1965 zur Welt.

1966 zieht die Familie in den Prenzlauer Berg. Sollte sie noch mal studieren? Helga Paris ist auf der Suche. Wie jede Mutter fotografiert sie ihre kleinen Kinder mit ihrer ersten Kamera, einer tschechischen Flexaret: Jenny und Robert am Kinderzimmerfenster zwischen Raffgardinen. Der helle Schein des Nachmittagslichts schimmert auf ihren blonden Köpfen. Das ist das Schlüsselfoto. Der Dokumentarfilmer Peter Voigt (gest. 2015) sieht das. „Det is juut“, zitiert Helga Paris den Freund. „Mach doch Fotografie!“ So habe alles angefangen. Autodidakt. Sie sei aus der Tür und auf die Straße gegangen, in die Kneipen, in die Geschäfte. Mit neugierigen offenen Augen wird sie zur Chronistin ihres Viertels.

Mit Proportionen kennt sie sich vom Studium aus. Immer machte sie SchwarzWeiß-Bilder und alle Abzüge von eigener Hand in der Wohnung. 1975, als sich das Ehepaar Paris trennt, vollendet sie ihre Serie „Berliner Kneipen“. Die sollen zu dieser Zeit verstaatlicht werden, was aber nicht geschieht. Im Magazin erscheinen ihre eindrucksvollen Porträts der „Müllfahrer“ am Prenzlauer Berg. Den Text schreibt sie selbst dazu. „Konkurrenz gab es unter uns Fotografen nicht“, erklärt Helga Paris. Denn damals ging es nicht ums Geld. „Gelebt habe ich von Reproduktionen für Kataloge von Künstlern und Schriftstellern.“

Daraus resultiert auch ihr Freundeskreis. Besonders eindrücklich und fast schon historisch anmutend ist ihr Foto der „17 Dichter“ in der Werkstatt der Keramikerin Wilfriede Maaß (wilfriedemaass.de). In den 1980er-Jahren werden die Stadtbezirks-Galerien in Ost-Berlin eröffnet. Dort zeigte man viel Fotografie, und gerade die, die keinen politischen Auftrag hatte. Anfang der 1990er-Jahre fährt Helga Paris wieder nach Moskau. Und ihre zu DDR-Zeiten verbotene Ausstellung „Häuser und Gesichter“, die die Stadt Halle als graue langsam verfallende Stadt zeigt, findet endlich viele Besucher.

Mode interessiert Helga Paris schon lange nicht mehr. Jahre nach der Wende hat sich für sie auch die Fotografie verändert. Das Digitale, das unentwegt auf den Knopf-Drücken, findet sie inflationär. Ihre Sache ist das Analoge. „Man überlegt, bevor man abdrückt, trifft eine Auswahl.“ 2011 erlahmt ihr Interesse an der Fotografie. „Ich war satt“, sagt sie. „Ich war voll.“ Die jetzt in der Akademie gezeigte Ausstellung ist ihr dennoch wichtig. Bei der Vorbereitung halfen ihre Kinder Jenny und Robert. Die Kuratorin Inka Schube ist mit ihren Bildern lange vertraut. „Viele meiner Arbeiten wurden bisher nie zeigt.“ Die kann man jetzt sehen.
Die 275 Fotografien der Ausstellung lesen sich wie eine chronologische Erzählung mit mehreren Stationen: Familie, das nachbarschaftliche Umfeld, Stadtlandschaften Berlin, Halle, Moskau und Leipzig. Ihre Porträts gehen unter die Haut. Die Ernsthaftigkeit berührt. Das Vertrauen der Dargestellten in die Fotografin ist sichtbar. Ungeschönt kann man in den Gesichtern Mühe und Last ihres Lebens lesen. Bloßgestellt als Person sind sie nie. Die Würde des Menschen ist auch für Helga Paris unantastbar.

Inge Ahrens

 

Information
Helga Paris, Fotografin
8. November 2019 bis 12. Januar 2020,
Ausstellungseröffnung 7.11., 19 Uhr,
Di. bis So.: 11 – 19 Uhr,
Akademie der Künste,
Pariser Platz 4, 10117 Berlin

Helga Paris, Publikation,
Leipzig Hauptbahnhof 1981,
Fotos, 96 Seiten, 28 Euro,
Spector Verlag, Leipzig 2019,
www.spectorbooks.com

 

80 - Herbst 2019
Kultur