Bastelmärkte boomen. Das Internet bietet Inspiration und Austausch. „Do it yourself!“ ist ein Trend, der geradezu ein neues Raumdenken erfordert. Wohnen braucht Platz für Kreativität, egal ob man allein,mit der Familie oder mit Freunden tätig werden möchte.
Charlotte ist eine begnadete Hin- und Herschieberin: einen Bücherstapel zum Ende des geräumigen Esstisches, die Tassen und Teller nach vorn, weil die Kinder Frühstücken müssen. Danach das Geschirr in die Spülmaschine, dafür eine Linoleumplatte als Arbeitsunterlage auf den Tisch. Sie soll das helle Eichenholz schützen, denn jetzt geht es los mit Farben samt Papiermachémasse. Fast alle Lampenschirme hat Charlotte für ihre Altbauwohnung selbst gemacht. Dafür lohnt sich das Hin und Her. „Es macht ja glücklich, wenn dann was entstanden ist“, erzählt die Spanisch-Dolmetscherin, die nach dem intensiven Job der Sprachtransformation zur Entspannung gern mit den Händen arbeitet. Oder Sonja, die einen Tischwebstuhl immer anschlagbereit hat sowie die Materialien, aus denen dann Webkissen in grafischem Design entstehen. Sie nennt sich auf ihrer Website treffsicher die „Zeitgenossin“. Ob malen, basteln, werkeln – alles was unter DIY, „Do It Yourself!“, seit Jahren einen Boom erfährt, erfordert ein neues Raumdenken. So sind offene Grundrisse für mehr Flexibilität ein Dauerthema des Wohnungsbaus. Aber auch Altbauten mit Kammern und Kleinräumen haben ein charmantes Potenzial. Nicht alle Wände müssen immer weg! Es geht um die Fragen, wo kann man mit etwas Ruhe seine Kreativität entfalten? Wohin mit den Materialien? Schablonieren, nähen, knüpfen und filzen, Möbelbau, modellieren, Keramik oder Beton, Siebdruck hoch im Kurs. „Do It Yourself!“ kennt keine Fantasie- aber Platzgrenzen. Gerade in der Vorweihnachtszeit herrscht in den Küchen und Wohnzimmern ja traditionell Hochbetrieb.
Wer was tun will, findet auch einen Platz dafür! Dieser Imperativ wirkt, im Alltag allerdings ist er für viele eine mentale Herausforderung. Malt man einfach auf dem Fußboden? Trennt man ein Stück Raum mit Planen ab und hat so seine Matschecke oder das Miniatelier? Genügt nur ein Tisch im Wohnbereich? Darf der Bastelkram stehenbleiben? Und wenn Besuch kommt und selbst noch auf dem letzten Stuhl die jüngsten Kreationen im Halbfertigzustand liegen, derweil das Materialchaos vom übrigen Raum längst Besitz ergriffen hat?
Der „Hobbykeller“, das ist ein Wort aus den Siebzigern und Achtzigern, als Plattenbauten mit einem für die ganze Mietergemeinschaft nutzbaren „Hobbyraum im Keller“ ausgestattet wurden. Heute heißt es „Craftspace“.
Gemeinsam tun
Nicht jeder hat einen Dachboden oder einen Keller, wohin die Werkzeuge und Materialien schnell verschwinden könnten. Aber eine Ecke mag sich finden und ansprechend gestalten lassen, besser noch eine alte Kammer. Auch die Diele lässt sich in Betracht ziehen oder eine Galerie. Es geht ja auch darum, die praktischen Notwendigkeiten mit Atmosphärischem aufzuladen. Es geht um Rückzug, Stimmung und Gelingen, auch um Gemeinschaft. Nicht allein mit den Kindern, auch mit Freunden. Und statt einer XXL-Sofaecke kann es ja ebenso inspirierter zugehen. Eine produktive Atmosphäre ist per se einladend! Was ist wichtig? Ein Tischchen mit Schubfächern ein Zeichentisch oder eben eine Arbeitsplatte auf Böcken, die man idealerweise und erst recht, wenn mehrere mitmachen sollen, von beiden Seiten aus benutzen kann? Wandregalelemente, Körbe, Gläser für den Kleinkram, eine Messekiste oder andere Vintage-Exemplare. Holzschachteln, Köfferchen können wie Hakenleisten und vieles mehr hilfreich und stylisch zugleich sein. Gutes Licht über dem Arbeitstisch ist das Wichtigste! Toll sind Apothekerschränke mit ihren vielen Schüben, auch industrielle Werkspinde und, wer mit Papieren umgeht und Platz für einen Grafikschrank hat, mag sich glücklich schätzen. Ikea bietet seit Jahren Stauraumideen für ein kreatives Zuhause an. Und die praktischen bunten Stapelkisten von HAY laden allein schon zu Farbspiel und Turmbau ein. Die „Bastelecke“ ist hoch im Kurs und wird immer schöner, heller und – was zugleich Equipment und Output betrifft – perfekter.
Die Dänische Designerin Louise Campbell hatte schon 2014 auf der Kölner Möbelmesse imm cologne einen Denkanstoß für ein kreatives, offenes Zuhause gegeben; zugleich auch ein Statement zu Geschlechterrollen. Zum Beispiel imponierte das riesige Werkbord über der minimalistischen Küchenzeile. Es fasste nicht nur Topfdeckel, Schöpflöffel oder Messer, sondern auch Nähzeug, Zangen, Hammer, Schrauber. Das Haus-Interiors on Stage fand großen Zuspruch. Insgesamt hingen 573 Werkzeuge aller Art an der Wand. Für jede handwerkliche Tätigkeit gab es das passende Instrument. Gemeinsam etwas herzustellen, ist sinnstiftend, so die Botschaft.
Die Paletten-Sitzbank als DIY-Möbel Nummer Eins
Zwei aufeinander gestapelte Paletten verschraubt mit einer weiteren als Rückenlehne und beliebige Polsterauflagen ergeben eine besondere Lounge-Ecke. Die Hohlräume zwischen den Paletten bieten praktische Ablageflächen [Foto: Ilchenko Rostislav, shutterstock.com]
Seit der Finanzkrise 2008 wurde nicht nur das Gärtnern neu entdeckt, sondern auch das Selbst- und Handgemachte. Internetforen lassen täglich neue Inspirationen aufpoppen. Das Upcycling von Europaletten für innen und außen ist dabei die gefühlte Nummer Eins. In Trendfarben gestrichene Obstkisten bereichern ebenfalls urbane Wohnungen weltweit und in Bloggs versammelt sich die Community und wetteifert um originelle Einfälle. Die Hamburger Messe hello handmade, die in diesem November zum 11. Mal stattfindet, avanciert inzwischen zum Wallfahrtsort.
Ein Blick zurück: Schöne Dinge wurden nicht selten und mitunter bis heute in Heimarbeit hergestellt. Sie erblickten in vorigen Jahrhunderten das Licht der Welt in Stuben, die zugleich Küche, Wohnecke- und Werknische in einem waren, winzige Räume mit funzligem Licht. Aus dieser Zeit mag die Botschaft stammen: „Wenn man etwas tun will, geht’s auch auf dem Fensterbrett“.
Anita Wünschmann