Ein Berlin-Buch für aufgeweckte Hauptstädter und fortgeschrittene Touristen.
Berlin ist ausufernd. Auf 892 km2 verteilen sich zwölf Bezirke, in denen 96 Ortsteile stecken. Viele der dreieinhalb Millionen Hauptstädter sind allerdings mehr mit ihrem Kiez (dem Umfeld, in dem sie wohnen) verwachsen als mit dem großen Ganzen. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Spandauer Bürger niemals den Fuß auf Hellersdorfer Boden setzt und umgekehrt. Die Touristen bleiben sowieso in Mitte oder was sie dafür halten. In Mitte verbirgt sich zwar ein Teil der historischen Stadt, aber weder die Ortsteile Friedrichshain noch Prenzlauer Berg, wo sie meist „angesiedelt“ werden, wo bekanntlich die Musik spielt und Zugereiste auf Touristen treffen. Friedrichshain und Mitte sind Ortsteile Pankows.
Das ist jetzt verwirrend. Auch für Berliner. Da helfen Reiseführer auch nicht weiter, aber die brauchen die Partyreisenden in Berlin ja auch nicht. Für die aufgeweckten Berliner und die Fortgeschrittenen unter den Stadtgästen hat Hanns Zischler jetzt ein Berlin-Buch der ganz anderen Art geschrieben. Der Mann hat ja nicht nur als Schauspieler etwas Bezwingendes. Er ist kluger Essayist, Schriftsteller, Kafka-Forscher und Sammler von scheinbar Alltäglichem. Seien es nun Fotoaugenblicke, Scherben mit Geschichte oder einfach knisternde Orangenpapiere. 1947 in Nürnberg geboren, studierte er in Berlin: und blieb hängen, wie so viele. Er wurde ein echter Westberliner, aber einer, der über den Tellerrand hinausschaut und Dinge ausgräbt, die manch anderer gar nicht wahrnimmt. „Berlin ist zu groß für Berlin“, ist der wohlgesetzte Titel seines neuesten Buches und meint damit die „gewisse Mischung aus Ausdehnungshunger, Größenwahn und Abrisslust“, die sich schon immer in Berlin zeigte. Das Buch beschäftigt sich sowohl mit der Stadtplanung der alten und neuen Hauptstadt als auch mit den Hinterlassenschaften der Trümmer des Zweiten Weltkrieges. Wie viele Male Zischler den aus Schutt gewachsenen Teufelsberg besuchte und aus seiner Krume Scherben zerstörter Haushalte zog! Im Buch hat er sie als archäologische Anordnung arrangiert, scheinbar unspektakulär wie viele Fotos aus seiner Hand, deren Erläuterungen man sich am Buchende erarbeiten muss. Das macht Spaß und fördert die Konzentration.
So wie Hanns Zischler wachen Auges durch die Stadt radelt oder spaziert, scheint der Zufall die ungewöhnlichsten Geschichten zu schreiben. Wir lernen, dass es einen städtischen Straßenbegeher gibt, der jeden noch so kleinen Schaden an und auf Fahrbahn und Gehweg notiert und den Ämtern meldet. Beim Lesen des Kapitels über Berlins Gärten, Parks und Plätze spürt man den Schmerz des Autors, dort, wo Architekten und Planer versagt haben. „Straßenzusammenstöße“ hat er es genannt. Das tut weh. Zischler setzt dem Passfälscher Oskar Huth ein nachträgliches Denkmal, gedenkt der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar und erinnert an alte Kinderhüpfspiele auf dem Straßenpflaster. Zischlers Buch ist eine Art Berliner Tagebuch im Gestern und Heute, und gibt Anregungen für den zweiten und dritten Blick auf die Stadt.
Inge Ahrens