Gemalte Visionen

Zu Lebzeiten stellte sie kein einziges Bild öffentlich aus, obwohl sie zu den Mitbegründern der abstrakten Kunst gehört. Die Nationalgalerie würdigt nun die schwedische Malerin Hilma af Klint mit einer Retrospektive im Hamburger Bahnhof und trägt damit zur Wiederentdeckung der herausragenden Künstlerin bei. Als vor zwei Jahren der Nachlass der schwedischen Malerin Hilma af Klint im Moderna Museet, Schwedens Nationalmuseum für moderne Kunst in Stockholm, für ein Ausstellungsprojekt gesichtet wurde, glaubten Kritiker sofort, die Kunstgeschichte neu schreiben zu müssen. Im Nachlass tauchten nämlich abstrakte Bilder und Skizzen auf, die vor 1911 datiert sind. Einem magischen Datum, denn in jenem Jahr malte kein Geringerer als Wassily Kandinsky sein ers­tes abstraktes Bild. Sollte also die Erfindung der Abstraktion von nun an der bislang kaum bekannten schwedischen Malerin zustehen? Doch die Kunstgeschichte folgt anderen Gesetzen: Nicht wer zuerst malt, kommt zuerst, heißt das geflügelte Wort, sondern bekanntermaßen umgekehrt. Zwar malte Hilma af Klint bereits 1906 ihre ersten abstrakten Bilder, doch hatte Kandinsky offenbar die besseren Mittel, zusammen mit Piet Mondrian in Holland, Kasimir Malewitsch in Russland und Robert Delaunay in Paris, die abstrakte Kunst als internationale Bewegung in Europa unwiderruflich zu begründen. Zudem konnte eine weibliche Künstlerin in der damaligen, männlich dominierten Kunstwelt schwer Förderer für sich gewinnen.

Nach ihrem Kunststudium an der Königlichen Akademie von Stockholm begann Hilma af Klint zunächst mit gegenständlicher Malerei. Bis sie mit der Theosophie in Berührung kam, eine esoterische Weltanschauung, deren metaphysischer Zugang ihr Impulse für ihr weiteres künstlerisches Schaffen eröffnete. Sie leitete sogar zeitweise einen spiritistischen Zeichenzirkel für Frauen. Später versuchte sie, anthroposophisches Gedankengut in ihre Bilder einfließen zu lassen. Was Rudolf Steiner zu der Bemerkung veranlasste, „sie solle nicht unbewusst malen“. Dass darin der Grund für die geringe Wertschätzung ihrer Bilder zu Lebzeiten zu suchen ist, könnte man fast vermuten, folgte man Ulf Wagner von der Hilma af Klint Stiftung: „Man kann schon sagen, dass sie vier bis fünf Jahre früher dran war als Kandinsky. Er aber entwickelte die abstrakten Ideen bewusster.“ Das Moderna Museet sah das indes weniger akademisch, machte aus dem Nachlass eine Tugend und trug mit der ers­ten großen Einzelausstellung der Künstlerin zu deren Wiederentdeckung bei.

Im Hamburger Bahnhof ist nun die Ausstellung zu sehen, ermöglicht durch den Verein der Freunde der Nationalgalerie. Sie bietet erstmals die Gelegenheit, sich umfassend über das Schaffen der schwedischen Künstlerin zu informieren, zumal neben einer Auswahl der wichtigsten Werke aus ihrem sehr umfangreichen Nachlass auch Notiz- und Tagebücher zu sehen sind, in denen sie ihre Überzeugungen und Visionen darlegte. In ihrem Testament verfügte sie, dass ihre Werke erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod 1944 öffentlich gezeigt werden sollten, in der Annahme, ihre gemalten Visionen wären ihrer Zeit weit voraus. Tatsächlich dauerte es noch länger, bis ab Mitte der 1980er Jahre erstmals Bilder von ihr in Ausstellungen auftauchten und sie als abstrakte Künstlerin wahrgenommen wurde. Eine angemessene Einzelausstellung war ihr bislang nicht vergönnt.

Reinhard Wahren

Information
Ausstellung
Hilma af Klint –
Eine Pionierin der Abstraktion
Hamburger Bahnhof –
Museum für Gegenwart, Berlin
15. Juni bis 6. Oktober 2013
Invalidenstr. 50–51, 10557 Berlin

 

55 - Sommer 2013