„Es sind wirklich nicht die angenehmsten Menschen, die ich häufig darstelle“

Charakterschauspieler André Hennicke will keine Karriere um jeden Preis. Er testet lieber Grenzen aus.

Dieses Gesicht vergisst man nicht: abgezehrt, aber voller Energie und Willenskraft, faszinierend, ausdrucksstark. Man hat den 54-jährigen André Hennicke im Kino und auf dem Bildschirm schon in den unterschiedlichsten Rollen gesehen: als Nazi-Fanatiker Rudolf Hess in dem Dreiteiler „Speer und ER“, als hochintelligenten Psychopathen und Serienkiller in „Antikörper“, als Klostervorsteher in dem Festivalfilm „In memorio di me“, als NS-Blutrichter Roland Freisler in „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ oder auch als Ritterkreuzträger Wilhelm Mohnke (1945 letzter Kampfkommandant im von den Russen belagerten Berlin) in dem Film „Der Untergang“.

Er leidet nicht, wie viele andere Schauspieler der Gegenwart, unter Auftragsmangel. Vor Kurzem stand er für den TV-Film „Die Spiegel-Affäre“ vor der Kamera. Er verkörperte den Rechtsanwalt Josef Augstein, den älteren Bruder des „Spiegel“-Chefs Rudolf Augstein, den er seinerzeit gegen die Anklage des Landesverrats verteidigt hat. Im Moment plant Hennicke einen Kinofilm, den er auch selbst produzieren will.

Geboren und aufgewachsen in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge, dicht an der tschechischen Grenze, lebt und arbeitet Hennicke schon lange in Berlin. Seine nach Junggesellenart spartanisch eingerichtete Wohnung liegt im Dachgeschoss eines renovierten Altbaus im Stadtteil Friedrichshain und bietet von der Dachterrasse aus einen fantastischen Rundblick. Hennicke privat ist ein ganz anderer Typ als in seinen Rollen: locker, witzig, von großer Offenheit. „Es sind wirklich nicht die angenehmsten Menschen, die ich häufig darstelle“, gibt er zu. „Aber wenn ich mit Vorbehalten ranginge, könnte ich das nie überzeugend spielen. Ich muss den Typ, den ich verkörpere, auch irgendwie faszinierend finden. Das werte ich nicht moralisch, sondern versuche nachzuempfinden, was in solchen Köpfen vorgeht.“

Wie ist er zum Schauspiel gekommen?
„Ich war Baufacharbeiter mit Brückenbauspezialisierung“, sagt er: „Das habe ich gelernt, weil es im kleinen Johanngeorgenstadt nicht viele Ausbildungsmöglichkeiten gab. Das Erst­bes­te, was sich bot, habe ich eben gemacht. Aber ich hegte den dringenden Wunsch, diesen Ort zu verlassen und eine andere Aufgabe zu finden. Kino faszinierte mich. Also habe ich mich heimlich an der Filmhochschule ‚Konrad Wolf‘ in Potsdam-Babelsberg beworben.“

Warum heimlich?
„Wenn ich das nicht geschafft hätte, wäre ich zum Gespött meiner Kumpels im Erzgebirge geworden“, lautet seine Antwort. „Aber die Filmhochschule hat mich angenommen.“ Nach Abschlussseines Schauspielstudiums öffnete sich für Hennicke erstmals der Blick in eine neue Welt. „1987 bekam ich die Chance, an einem Film über eine Söldnertruppe in Indochina mitzuwirken, einer Gemeinschaftsproduktion der DEFA mit Vietnam. Für mich als DDR-Bürger war das der erste Sprung nach draußen. Und gleich nach Asien! Als wir landen wollten, sah ich Wasserbüffel über die Landebahn trotten. Der Pilot musste nochmal hoch und eine neue Runde drehen. Dann waren die Büffel weg und wir konnten runter. Das war für mich umwerfend. Da habe ich gewusst, dass ich in diese Welt wollte.

Aber richtig begonnen hat meine Karriere erst nach der Wende. In der DDR hatte ich keine Chance, außerhalb des Systems einen Weg zu finden, in dem ich meine Ideen umsetzen kann. Im Westen konnte ich mir die Karriere richtig bauen. Doch anfänglich habe ich im Fernsehen so viele Psychopathen gespielt, dass es mir allmählich zum Hals raushing. Erst nach einigen Jahren ging das richtig los mit anspruchsvolleren Drehbüchern. Da hatte ich endlich ein Ziel vor Augen, um das es sich zu kämpfen lohnte. Gleich nach dem Fall der Mauer herrschte in Berlin ja ein unbeschreiblicher Hype. Alles war für mich neu und berauschend. Da war ich dem Absturz oft sehr nah.“ Hennicke verhehlt nicht, dass er schon in seiner DDR-­Jugendzeit zum Alkoholiker geworden war, aber er weist darauf hin, dass die­se Periode seines Lebens der Vergangenheit angehört. Er sagt: „Seit dem Jahr 2000 bin ich trocken. Da habe ich mein Leben von heute auf morgen geändert, weil ich etwas erreichen wollte. Ich trank ja früher nur, weil ich unzufrieden gewesen bin. Meine Arbeit hat mich nicht ausgefüllt. Ich strebte nach höheren Qualitäten.“

Mit welchen Rollen kann man ihn heute locken?
„Sie müssen interessante Facetten haben, dürfen nicht beliebig sein“, antwortet der Charakterschauspieler: „Die Gagenhöhe lockt mich nicht. Reichtum ist nicht mein Lebensziel.“

Gudrun Gloth

 

55 - Sommer 2013