Görlsdorf ist eines der ältesten Gestüte in Deutschland. Große Galopper erblickten hier das Licht der Welt. An der erfolgreichen Vollblut-Zucht in der Uckermark hat sich seit 125 Jahren nichts geändert.
Prüfend saugt Greinton die Luft durch die Nüstern. Ja, das ist sein Wetter. Da kann er sich ein paar Stunden auf der eigenen Koppel genehmigen. Behäbig kommt der Braune an der Hand von Claudia Kästner aus seiner Box und blickt neugierig auf die vor ihm stehenden Zweibeiner. „Der ist allerhand gewöhnt. Wenn Sie nicht nach Stute riechen, dann bleibt er die Ruhe selbst“, versichert die Gestütsmeisterin. Greinton ist schließlich wer. Der Hengst im biblischen Pferdealter von 28 Jahren ist Europas ältester aktiver Vollblut-Vererber und erst in diesem Frühjahr wieder Vater von zwei prächtigen Fohlen geworden.
Doch nicht nur der Altmeister unter Deutschlands Deckhengsten lebt auf dem Gestüt Görlsdorf in einem Pferde-Paradies ohnegleichen. Zwar genießt er wie der jüngere Sternkönig, der zweite Hengst vor Ort, eine gewisse Ausnahmestellung. Doch auch die 35 Zuchtstuten und deren Fohlen und Jährlinge tummeln sich auf der Weite des Eldorados, das von einem einzelnen Punkt gar nicht zu überschauen ist. „127 Hektar Gelände, das meiste davon Koppeln“, weist Gestütsmeister Albert Kästner von einer kleinen Anhöhe auf das gigantische Anwesen nordwestlich von Angermünde.
Das satte Grün der Uckermark veranlasste Wilhelm von Redern schon 1883, hier eines der ältesten Gestüte Deutschlands zu errichten. Vor allem das englische Vollblut hatte es dem Pferdenarren angetan. „Seitdem ist hier nie etwas anderes gezüchtet worden“, erklärt Albert Kästner nicht ohne Stolz. Der ehemalige Jockey und Trainer kam Mitte der 90er Jahre als Gestütsmeister in diese Idylle 80 Kilometer nördlich von Berlin und lacht bei der Bemerkung, dass man ihm jeden Tag Arbeit vor Ort hier eigentlich vom Urlaub abziehen müsste. „Ja, es macht mir jeden Tag wieder Spaß, mit den Pferden zu arbeiten“, versichert der 67-Jährige.
Der gebürtige Hildesheimer hat die letzten Umbauten und Verschönerungsarbeiten noch miterlebt, als die Familie Bischoff das auch in der DDR erfolgreiche, aber baulich nicht eben in Top-Zustand befindliche Gestüt von der Treuhand erwarb. „Hier sind keine Fördermittel drin. Das ist alles privat wieder so auf Vordermann gebracht worden“, zeigt Albert Kästner auf historisch erhaltene Gebäude mit norddeutschem Charme, intakte Stallungen und die riesigen Koppeln für die Vollblüter. Auf Rechtecken von der Größe eines Fußballfeldes tummeln sich nicht nur Greinton und Sternkönig. Eigentlich hätte jedes der edlen Rösser diesen idealen Auslauf. Doch Pferde sind Familientiere. So stehen die zarten Fohlen immer dicht neben ihren Müttern, und jene beäugen argwöhnisch die Fremden, die sich den Vollblütern vorsichtig nähern. Doch Gefahr erkennen sie nicht, und deshalb dürfen die erst wenige Monate alten Nachkommen noch etwas Milch saugen, bevor sie wie ihre Mutter das saftige Gras fressen.
Auf großen Publikumsverkehr verzichtet man in Görlsdorf bewusst, und kein Hinweisschild bahnt den Weg ins Pferdeparadies. „Die Vollblüter brauchen Ruhe. Sie müssen sich schließlich schnell entwickeln. Schon im Alter von zwei, spätestens drei Jahren entscheidet sich, wer ein richtiges Rennpferd wird“, verweist der Gestütsmeister auf die kurze Jugendzeit der Fohlen und Jährlinge. Ihr wichtigstes Rennen, das Derby, ist für Dreijährige ausgeschrieben. Jeder hat nur einmal die Chance zu gewinnen. Deswegen ist die Abgeschiedenheit in der Uckermark ideal, und vorbei sind die Zeiten, als die prachtvolle Anlage Kulisse für einen Film abgab. 1941 bestimmten hier Kameras das Bild, als Frauenschwarm Willy Birgel für den Streifen „Reitet für Deutschland“ die Hauptrolle spielte.
Und so hoppeln die Fohlen nur wenige Monate unbeschwert über die Koppeln oder balgen sich spielerisch um die Vorherrschaft in der großen Familie. Im Herbst steht die erste Auktion in Baden-Baden auf dem Programm. Den Argusaugen der Fachleute müssen die stolzen Rösser dann schon standhalten. Wer es noch nicht in einen der bedeutenden Rennställe schafft, hat später als stattlicher Jährling über Frühjahrs-Auktionen in England und Frankreich eine weitere gute Chance. Hohe fünfstellige Summen werden für die künftigen Sieger auf den Tisch gelegt – oder mehr. Bei Decktaxen in gleicher Höhe für die Finanzierung des Gestüts unabdingbar. Aber die Görlsdorfer haben in den vergangenen Jahren gut gewirtschaftet und zahlreiche erfolgreiche Hengste und Stuten in die Ställe gebracht. Das ist Werbung für die Zukunft. „Über den deutschen Galoppsport gibt es derzeit wenig gute Berichte. Aber deutsche Pferde gewinnen die wichtigsten Rennen der Welt“, sieht Albert Kästner die Entwicklung durchaus positiv.
Görlsdorfer Galopper sollen in dieser Szene mitmischen. Deswegen werden die Bedingungen im Gestüt täglich verbessert. „Platz ist das Wichtigste. Pferde sind Steppentiere, die Flucht sind sie gewöhnt. Ihr Kapital im Sport sind die Lunge und die Beine. Das können sie hier schon als Fohlen und Jährling ausgiebig trainieren“, weist der Gestütsmeister in das weite Rund. Täglich sind die Tiere draußen in der Natur, nur Glatteis und Gewitter zwingen sie in die Boxen. „Draußen sind die Pferde umgänglicher.“ Von Wetter und Jahreszeit unabhängig sei jeder Tag mit den Vollblütern schön. Vor allem aber die Geburt. „Da bin ich immer dabei, wenn es geht“, schwärmt Kästner. Nach elf Monaten Tragzeit kommt ein Fohlen stets nachts auf die Welt. „Wir machen das wie ganz früher, mit Nachtwächter. Und bei mehr als 90 Prozent unserer Geburten gibt es keine Komplikationen. Ganz selten muss der Tierarzt eingreifen“, sagt der erfahrene Gestütsmeister und sieht darin einen Vorteil der natürlichen Umgebung. Die 55 Kilo Geburtsgewicht werden bei richtiger Ernährung täglich um ein Kilo aufgestockt. Und bald schon sehen die anfangs staksigen Kleinen aus wie richtige Rennpferde.
Bei den Auktionen mischen sich dann Wehmut über den Abschied von den Zöglingen und Stolz, wenn sie für eine stattliche Summe in die großen Rennställe wechseln. Dann, ohne ihren Nachwuchs, dürfen sich die Mutterstuten gemeinsam auf der größten Koppel austoben und dem Familiensinn frönen. Die Mitarbeiter um Albert und Claudia Kästner aber verfolgen den Weg ihrer Ziehkinder weiter und freuen sich, wenn ein auf dem Gestüt geborenes Rennpferd die großen Preise gewinnt. „Der ist von uns“, sagen sie stolz, und nicht selten ruft der Besitzer an und erzählt, wie sich das Vollblut entwickelt. Das Gestüt Görlsdorf ist nur schwer zu finden, aber bei Pferdefreunden ist es in aller Munde.
Hans-Christian Moritz