Seit fast zwanzig Jahren stellen Marlen Meier und Christine Schöpf in Kreuzberg Maßschuhe für ihre Kunden her. Sie bieten nachhaltigen Luxus fürs Leben – nicht nur für reiche Leute.
Die ersten Schritte vergisst man nie. Es ist nicht nur die Abwesenheit von Druck und Enge. Es ist auch das Wissen, dass hier jemand ganz für einen allein etwas hergestellt hat. Man kann nicht anders, als zu strahlen. Marlen Meier und Christine Schöpf kennen diesen Gesichtsausdruck. Sie sehen ihn jedes Mal, wenn wieder ein Kunde seine maßgefertigten Schuhe abholt. Die winzige Werkstatt der beiden Frauen liegt in einem efeuüberwucherten Haus wenige Schritte vom Görlitzer Bahnhof entfernt. Die Gegend ist rau und nicht übermäßig wohlhabend. Man würde sie nicht sofort mit diesem Luxus in Verbindung bringen. Aber bei genauem Hinsehen passen der alternative Berliner Charme und die „Maßschuhmacherei Meier & Schöpf“ gut zusammen. Denn hier geht es nicht um zur Schau gestellten Wohlstand. Es geht um ein altes Handwerk und um ein Alltagsprodukt mit nachhaltiger Qualität. Eines, das Kunden auch in Raten bezahlen dürfen. Sein Preis kann nicht niedrig sein. Ungefähr 1400 Euro kosten Halbschuhe, etwa 1700 ein Paar Stiefel.
Angefangen hat alles vor drei Jahrzehnten. Marlen Meier war wütend, weil der Schuster ihre Lieblingscowboystiefel ruiniert hatte. Ohnehin fand die schlaksige Frau mit den freundlichen Augen für ihre Schuhgröße 42 fast nirgendwo schöne Schuhe. Ihre Kleidung schneiderte sie schon selbst. „Da dachte ich, jetzt muss ich auch die Schuhe noch selbst machen.“ In einer dreijährigen Lehre ließ sich die heute 52-Jährige zur Schuhmacherin ausbilden. Im Gegensatz zum „Schuster“, der Schuhe lediglich repariert, kann ein Schuhmacher Stiefel, Pumps und Sandaletten von Grund auf anfertigen. 1990 lernte sie Christine Schöpf kennen. Die gebürtige Frankfurterin mit grauer Haarmähne machte in London gerade ihren Abschluss als Schuhdesignerin. Die Vorstellungen der beiden waren ähnlich: Sie wollten für Leute arbeiten, die man mit Handwerk glücklich machen kann. 1992 eröffneten sie zusammen ihr Geschäft. „Als wir anfingen, gab es noch nicht viele Frauen mit diesem Beruf“, sagt Marlen Meier. „Inzwischen sind Schuhmacherinnen in Berlin in der Überzahl.“
Die Tür des kleinen Ladens steht häufig offen. Dann ist schon auf der Straße das Surren der Näh- oder Poliermaschine zu hören. Manchmal auch leise elektronische Trancemusik, die Marlen Meier gerne bei der Arbeit hört. Innen ist die Luft ein wenig staubig und riecht nach Leder und Leim. In einer kleinen Ausstellung sind Modelle zu sehen: Stiefeletten mit klassischem Budapester Lochmuster, grelle Clogs mit Keilabsatz, elegante Stiefel mit feinzieselierten Applikationen, ein klassischer Damenschnürpumps in goldenem Leder.
Hunderte von Kunden haben sich in gut zwanzig Jahren in der Maßschuhmacherei Schuhe gegönnt. Jeder einzelne entstand über einem Leisten, der dem individuellen Fuß mit allen Kanten und Dellen nachempfunden ist. Diese Holzklötze hängen an den Wänden der Werkstatt und werden „für alle Zeiten bewahrt“, wie Christine Schöpf sagt. Und beim nächsten Paar wieder verwendet – dadurch wird es günstiger. Aber längst nicht jeder Besucher lässt sich gleich Schuhe machen. „Wir leben auch von Reparaturen“, sagt Marlen Meier. Ausgerissene Flip-Flop-Riemchen flickt sie ebenso feinfühlig wie zerschlissene Ledertaschen oder ausgetretene Lieblingsstiefel. Seit ein paar Jahren sind individuell zusammengestellte Holzpantinen dazugekommen. Aus einer großen Auswahl von Sohlen und Riemchen kann man sich solide Klapperschuhe zusammenstellen lassen.
Schuhmachen sei Dienstleistung, sagt Christine Schöpf. „Die Wünsche der Kunden stehen im Vordergrund, nicht unsere Vorlieben.“ Das heißt aber nicht, dass man sich auf unrealistische Vorstellungen einlässt. „Am liebsten ist mir, wenn jemand sagt, was er will, und ich sage, was möglich ist“, sagt Marlen Meier. Sie verbringt einen Teil ihrer Zeit auf dem eigenen Bauernhof und hat einen sicheren, zupackenden Griff, mit dem sie noch jede Wade so vermessen hat, dass der Stiefelschaft nachher sitzt. Dass die Kunst nicht zu kurz kommt, dafür sorgen die Aufträge für Film und Theater, die in Christine Schöpfs Fachgebiet fallen. Nicht nur für das Fabelwesen „Das Sams“ hat sie im gleichnamigen Kinofilm flossenförmige Schuhe entworfen. Im Spielfilm „Der Untergang“ trug Josef-Goebbels- Darsteller Ulrich Matthes Spezialschuhen aus dieser Werkstatt. Eines ihrer Werke, in Form eines anatomisch fast korrekten Herzens, hat es sogar ins New Yorker Museum of Modern Art
geschafft. Königsdisziplin ist aber der alltagstaugliche Maßschuh, besonders die komplizierten Fälle. „Da kam doch vor einiger Zeit die Frau dieses exotischen Botschafters …“, erinnert sich Christine Schöpf. „Die war relativ … großwadig“, ergänzt Marlen Meier. An die Riste und Waden ihrer Kunden erinnern sie sich meist besser als an deren Gesichter oder Namen. Am Ende strahlte die füllige Dame in einem Paar eleganter Stiefeletten.
Wichtig ist das Zusammenspiel von Schnitt und Material, sagt Christine Schöpf. Mit Stift und Pauspapier nimmt sie am Anfang Maß bei jedem Fuß. Dann bespricht sie mit dem Kunden die gewünschte Grundform und Absatzhöhe. Aus Lederresten fertigt sie anschließend in vielen Arbeitsschritten einen Probeschuh. Der Kunde wird zur ersten Anprobe gebeten. Das ist oft ein kritischer Moment. „Hier zeigt sich, ob man die Vorstellungen des anderen verstanden hat“, sagt Christine Schöpf. Jetzt wird gezupft und geschnürt, um sicherzustellen, dass der Schuh wirklich exakt an den Fuß passt. Ob ein Schuh drückt oder knautscht, ist oft eine Frage von wenigen Millimetern. Die wahre Qualität enthüllt sich ohnehin erst später. Ein richtig sitzender Schuh bekommt auch nach wochenlangem, regelmäßigem Tragen keine Querfalten oder Beulen. Erst, wenn sich die Schuhmacherinnen versichert haben, dass sich Fuß und Probeschuh verstehen, beginnt die eigentliche Herstellung. Bis zu zwanzig Einzelteile schneidet die Designerin aus dem gewünschten Leder zurecht. Die Schuhmacherin näht sie zum Schaft zusammen und baut den Schuh über die mehrlagige Sohle in Dutzenden Arbeitsschritten auf. An dieser Technik hat sich seit dem Mittelalter nichts Wesentliches geändert.
Für den Kunden geht nach dem Probeschuh das Warten los. Bis zu sechs Monaten dauert die Herstellung eines neuen Paars. Hetzen lassen sich die Handwerkerinnen nicht. Wenn dann die Einladung zur Anprobe kommt, setzt das Herzklopfen ein – auf beiden Seiten. „Es ist ein besonderer Moment, wenn das, was sich der Kunde erträumt hat, plötzlich vor ihm auf dem Tisch steht“, sagt Christine Schöpf. Auch sie atmet auf, wenn der Schuh bei der ersten Anprobe sitzt wie angegossen. Ein Maßschuh sieht anders aus als ein Fabrikmodell oder eines aus einer Modezeitschrift. Er formt sich nach dem Fuß, nicht umgekehrt. „Manchmal dauert es einen Moment, bis das verkraftet ist“, sagt die Designerin. „Aber dann kommt das Strahlen.“
Susann Sitzler
Information
Maßschuhmacherei Meier & Schöpf Manteuffelstraße 41, Berlin-Kreuzberg.
www.meier-schoepf.de