In Berlin begegnet man auf Schritt und Tritt geschichtlichen Zeugnissen. Eine Entdeckungsreise im Bayerischen Viertel in Schöneberg lohnt sich – nicht nur wegen der vielen Prominenten, die dort wohnten.
Weder reizvoll noch einladend wirkt die Haberlandstraße auf den ersten Blick. Ein markanter Gründerzeitaltbau ist zu sehen, ein Spielplatz, mehrere schmucklose Nachkriegswohnhäuser. Und doch begegnet man in der Haberlandstraße nicht selten Touristengruppen. Meist stehen sie vor dem Haus mit der Nummer 8 – denn in dem Gebäude, das sich einst an dieser Stelle befand, wohnte von 1918 bis 1932 der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein. An ihn erinnert seit Kurzem eine Stele. Der Anwohner und gebürtige Spanier Gregorio Ortega Coto hat sie mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin aufstellen lassen.
Albert Einstein war bei Weitem nicht der einzige prominente Bewohner des Bayerischen Viertels, das sich um den Bayerischen Platz in Schöneberg erstreckt. Und er war auch keineswegs der einzige jüdische Bewohner des Quartiers: 1933 lebten in Schöneberg rund 16 000 Juden, viele davon im Bayerischen Viertel. Zur jüdischen Gemeinde gehörten auch die Väter des Bayerischen Viertels, der Grundstücksentwickler Salomon Haberland (1836–1914, nach ihm ist die Haberlandstraße benannt) und sein Sohn Georg (1861–1933). Sie erschlossen mit ihrer Berlinischen Boden-Gesellschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das unbebaute Gebiet in der damals selbstständigen Stadt Schöneberg. Ein Viertel für das wohlhabende Bürgertum sollte entstehen, mit gehobenen Wohnhäusern und einer großzügigen Gestaltung des öffentlichen Raums. Die Straßen wurden nach bay-erischen und österreichischen Städten benannt – deshalb der Name Bayerisches Viertel.
Große Teile des Viertels fielen den Bomben des Zweiten Weltkriegs und den städtebaulichen Planungen der Nachkriegszeit zum Opfer. Einige Teilbereiche aber haben die Zeiten überstanden und geben noch immer einen Eindruck von der einstigen Vornehmheit der Gegend. Erlebbar ist diese zum Beispiel in der Bozener Straße mit ihren erhaltenen Gründerzeithäusern. Im Erdgeschoss des Hauses mit der Nummer 20 lebte bis zu seinem Tod 1956 der Dichter Gottfried Benn. Er war nur einer von vielen Künstlern, die sich im Bayerischen Viertel wohlfühlten. Einige Schritte weiter, nördlich der Grunewaldstraße, erinnert in der Stübbenstraße 5 eine Gedenktafel an den Schriftsteller Arno Holz, der hier im Dachgeschoss hauste. In der Regensburger Straße 33 wohnte Claire Waldoff, die als Ur-Berliner Sängerin gilt, obwohl sie doch in Gelsenkirchen zur Welt kam. Und in der Rosenheimer/Ecke Münchener Straße war die Lyrikerin Gertrud Kolmar zu Hause. Das Gebäude, in dem sie lebte, steht nicht mehr; stattdessen spielen dort jetzt Jugendliche Fußball. Ganz in der Nähe, vor der heutigen Löcknitz-Schule in der Münchener Straße 37, weist ein Gedenkstein auf die Synagoge hin, die hier einst den Mittelpunkt jüdischen Lebens bildete. Die Synagoge überstand zwar die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, wurde aber in den fünfziger Jahren abgerissen. Ein jüdisches Leben gab es damals kaum mehr – die Nationalsozialisten hatten die jüdischen Bürger vertrieben und in die Vernichtungslager deportiert. An die Verfolgungspolitik der Nazis erinnert seit den neunziger Jahren eine dauerhafte Installation der Künstler Renata Stih und Frieder Schnock. Verteilt über das ganze Bayerische Viertel platzierten sie an Laternenmasten 80 Tafeln, die auf der einen Seite ein Piktogramm zeigen und auf der anderen kurze Originaltexte wiedergeben. „Lebensmittel dürfen Juden in Berlin nur nachmittags von 4–5 Uhr einkaufen“ heißt es zum Beispiel oder „Der Besuch von Kinos, Theater, Oper und Konzerten wird Juden verboten“. Präsent wird die traurige Geschichte des Viertels auch in der Bamberger Straße 22. Dieses Wohngebäude war eines der sogenannten Judenhäuser, in denen Juden, die aus ihrer angestammten Wohnung vertrieben worden waren, auf die Deportation warteten. In der Bamberger Straße 22 lebte eine Zeit lang Inge Deutschkron, die die NS-Zeit überlebte und später unter dem Titel „Ich trug den gelben Stern“ ihre Erinnerungen veröffentlichte. Ebenfalls erhalten geblieben ist das Schulgebäude in der Hohenstaufenstraße 47–48: Die heutige Georg-von-Giesche-Schule hieß zu Beginn des 20. Jahrhunderts Werner-Siemens-Realgymnasium und wurde von zahlreichen jüdischen Schülern besucht, darunter vom späteren Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
Wer mehr über die jüdische Geschichte des Viertels und des ganzen Bezirks Tempelhof-Schöneberg erfahren will, hat dazu Gelegenheit im Rathaus Schöneberg. Dort ist im Rahmen des diesjährigen Themenjahrs „Zerstörte Vielfalt“ eine Ausstellung mit dem Titel „Fluchten – Jüdische Künstlerinnen und Künstler“ zu sehen (Ausstellungshalle im Hochparterre rechts, bis 24. November 2013, samstags bis donnerstags 10 bis 18 Uhr). Darüber hinaus informiert seit kurzem im U-Bahnhof Bayerischer Platz (Bahnsteig der U7, westlicher Ausgang) eine reich bebilderte Ausstellung über die Geschichte des Bayerischen Viertels. Einen Überblick über die Standorte der Installation von Stih und Schnock gibt zudem eine Informationstafel auf dem Bayerischen Platz. Dieser strahlt allerdings längst nicht mehr die Vornehmheit vergangener Tage aus. Immerhin sprudelt der Brunnen wieder, und seit vor einigen Jahren die Sträucher zurückgeschnitten wurden, sind auch die Bänke nicht mehr dauerhaft von Menschen besetzt, die sich mehr für alkoholische Getränke als für deutsche Kulturgeschichte interessieren. Zurück zur Haberlandstraße. Die heißt erst seit 1996 wieder so – die Nazis wollten die Erinnerung an die jüdischen Erbauer des Bayerischen Viertels tilgen und benannten die Haberlandstraße deshalb in Nördlinger Straße um. Dies und mehr ist in einem Leporello nachzulesen, das Gregorio Ortega Coto, der engagierte Anwohner der Haberlandstraße, soeben herausgegeben hat.
Emil Schweizer
Information
Literaturhinweise:
Gudrun Blankenburg
Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg.
Hendrik Bäßler Verlag, EUR 11,95
Gregorio Ortega Coto
Haberlandstraße Berlin-Schöneberg.
Die Geschichte einer Straße und ihrer Bewohner.
Hendrik Bäßler Verlag. EUR 6,95