Berlin-Macher

Dass Berlin dazu verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein, wusste schon im Jahr 1910 der Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler. Ein oft zitierter Satz, der noch heute gilt. Umso mehr sind Menschen gefragt, die vor oder hinter den Kulissen etwas bewegen und die Stadt ein Stück voranbringen. Wir stellen sie in jeder Ausgabe vor, die Berlin-Macher. Diesmal Thomas Olbricht

Der Mann ist ein Phänomen und steckt auf den ersten Blick voller Widersprüche. Auf der einen Seite ist er Arzt und Chemiker, der sich als solcher wissenschaftlichem Denken und naturwissenschaftlicher Logik verpflichtet fühlen muss. Auf der anderen Seite ist er ein Kunst-Sammler, der seiner Leidenschaft eher mit „Intuition als mit Planung“ nachgeht. Einzelne Sammlungsgebiete verfolgt er „kontinuierlich seit Jahrzehnten, bei anderen gibt es Phasen, in denen sie fast in Vergessenheit geraten, um dann plötzlich wieder mein Interesse zu wecken“. Einerseits strebt er nach Anerkennung, anderseits will er, wenn nicht gar provozieren, so doch zum Nachdenken anregen. Er will sich offenbaren, hat aber doch Angst, „Tür und Tor von Herz und Seele“ zu öffnen. Er selbst ist „kein großer Leser“, wählt aber doch die Form eines Buches, um sein „Leben mit der Kunst-Geschichte“ zu erzählen. Umso spannender ist die Antwort auf die Frage: Wer ist dieser Thomas Olbricht wirklich, der mit „me Collectors Room“ und der nach ihm benannten Stiftung in Berlin seit 2010 die Kunstszene aufmischt?

Geboren 1948 in Wernesgrün, studiert Olbricht in Marburg und Bochum Chemie und promoviert 1974, um hiernach in Essen Medizin zu studieren und 1979 auch in diesem Fach zu promovieren. Zehn Jahre später wird er dort Privatdozent für Innere Medizin und Endokrinologie, 1994 zum Professor für Innere Medizin ernannt. Zu dieser Zeit gehört er als einer der Erben der Wella-Gründerfamilie Ströher dem Aufsichtsrat der Wella AG an, 2002/2003 als dessen Vorsitzender. Nach dem Verkauf der Firma an Procter & Gamble scheidet er aus dem Unternehmen aus und widmet sich fortan seiner Sammelleidenschaft, die sein Großonkel Karl Ströher in ihm bereits zu Studentenzeiten mit Objekten von amerikanischen Pop-Art-Künstlern und Joseph Beuys geweckt hat.

Nun sitzt Olbricht hier in Berlin in seinem me Collectors Room. Und man sieht und merkt ihm an, dass das alles mehr sein soll, als nur die Ansammlung von Objekten. „Mein Markenzeichen ist die Vielfalt“, sagt er, der Kunstwerke auf eine Art und Weise miteinander verbindet, „auf die andere nicht mal im Traum kämen.“ Er möchte, dass Leute sich ihre eigenen Gedanken machen. Das habe etwas mit dem Kopf, mit seinem Kopf zu tun, mit Fantasie eben. Und so definiert er auch sein Weltbild der Kunst als „hohe Leidenschaft mit Blick nach vorne und zurück“. Er lasse sich von Neuentdeckungen begeistern, folge keiner einmal festgelegten Strategie, sondern schätze gerade die Dynamik, die sich aus der Vielfalt ergebe. Gerne bezeichnet er sein Sammel-Ich als Krake: „Die Arme greifen nach diesem und nach jenem – in die unterschiedlichsten Richtungen – und irgendwo in der Mitte sitzt der Verstand und muss darauf achten, dass das, was die Arme einfangen, noch zusammenpasst.“

Nachdem Olbrichts Lebensmittelpunkt Essen ist und wohl auch bleiben wird, drängt sich die Frage auf: Warum Berlin? Warum der me Collectors Room in der Auguststraße in Mitte? Natürlich habe er auch in Essen Gespräche geführt, sei aber letztlich nicht verstanden worden. Und dann habe ihn der Kulturmanager Klaus Biesenbach auf das Grundstück in Berlin aufmerksam gemacht. „Na ja“, lacht er ein wenig verschmitzt, „wo wollen sie das sonst machen?“ Berlin sei die „internationalste Stadt Deutschlands“ und die Auguststraße der Kunst-Kristallisationspunkt schlechthin.

Und da Olbricht das Haus in der Auguststraße 68 gehört, kann er dort auch Dinge tun, die ihm gefallen und andernorts nicht gemacht werden. Und so kombiniert er die Stücke seiner Wunderkammer wie kostbare Kunstwerke (Artificialia), seltene Naturalien (Naturalia), wissenschaftliche Instrumente (Scientifica), Objekte aus fremden Welten (Exotica) und unerklärliche Dinge (Mirabilia) mit zeitgenössischer Kunst, hebt gleichzeitig alle Grenzen auf und bietet eine Plattform für internationale, private Kunstsammlungen. „Liebe, Leben, Tod – das zieht sich durch alle Kunstrichtungen durch und passt insofern auch zusammen“, ist sein Credo. Besonders bemerkenswert ist Olbrichts Engagement für Kinder und Jugendliche. Dabei öffnet er sein Haus auf so ungewöhnliche Art und Weise für diesen Personenkreis, dass man es anfangs gar nicht glauben mag. Abgesehen davon, dass die Kinder und Jugendlichen die Kunstwerke im Haus im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, weil anfassen können, bietet er Studenten, die im Rahmen ihres Masters einmal selbst kuratieren müssen, die Möglichkeit, ungeschützt in seiner Sammlung zu wühlen und das Thema sowie die dazu gehörenden Arbeiten selbst auszusuchen. „An uns soll’s nicht liegen“, antwortet er auf die Frage, wie lange er den Studenten diese Möglichkeit noch bieten wird.

So ambitioniert Olbricht nach wie vor ist, so hat es ihn doch gedrängt, einen „ganz persönlichen Blick“ zurück auf sein Leben zu werfen, eine Art Zwischenbericht zu erstellen, ein Buch zu schreiben, das für ihn als „das richtige Medium“ erscheint. Das Werk liegt zwar gedruckt vor (uns), wird aber von ihm gehütet wie sein Augapfel. In den Verkauf geht es ohnehin nicht. „Könnte man insofern sagen, dass ich dieses Buch eigentlich nur für mich geschrieben habe, so stimmt das allerdings auch nur zum Teil“, dürfen wir für diesen Berlin-Macher als Erste aus Olbrichts Autobiografie zitieren. „Für mich war es zweifellos wichtig, mein Leben Revue passieren zu lassen, aber genauso wichtig war mir, mit denen, die mir nahestehen, meine Erinnerungen und Erlebnisse, meine Überlegungen und Wünsche auf diesem Weg teilen zu können. Es ist wohl ein Zeichen fortschreitenden Alters, dass man versucht, das Erlebte vor dem Ver­gessen zu bewahren und es an die nächs­te Generation weiterzugeben.“

Und so wundert man sich zunächst, wenn man das Buch in Händen hält, dass auf dem Buchtitel steht: Me-Not. Da lächelt er nur und rät, das Buch einmal ganz aufzuklappen und sich Vorder- und Rückseite anzuschauen. Dann sieht der Buchtitel auch schon ganz anders aus: Forget-Me-Not.

Detlef Untermann

 

56 - Herbst 2013