Wunderbare Industriekunst

Die erste umfassende Retrospektive über Le Corbusier im Martin-Gropius-Bau wirft einen neuen Blick auf das vielfältige Werk des Schweizer Architekten.

Im April 1919 kommt der junge Le Corbusier, damals noch mit seinem bürgerlichen Namen Charles-Édouard Jeanneret, erstmals nach Deutschland. Mit einem Reisestipendium in der Tasche soll er im Auftrag der Schweizer Kunsthochschule La Chaux-de-Fonds die deutsche Kunstgewerbebewegung studieren. Er hält sich ein Jahr lang in Deutschland auf, reist kreuz und quer durchs Land, trifft die Protagonisten des Werkbundes, besucht Werkstätten, Industrieanlagen, Gartenstädte, Museen und Kunstgewerbeschulen. Es gelingt ihm sogar, bei Peter Behrens, dem ersten Industriedesigner der AEG, in dessen Atelier in Babelsberg eine vorübergehende Anstellung als technischer Zeichner zu finden. Am Ende seines Deutschlandaufenthalts schreibt er über die deutsche Kunstgewerbebewegung begeistert: „Eine Studie, wie sie mir die Kommission der Kunstschule ermöglicht hat, müsste von anderen fortgesetzt werden; das wunderbare Deutschland der Industriekunst muss kennengelernt werden. In Zeiten der internationalen Konkurrenz muss auch die Information die Grenzen überschreiten. Deutschland ist ein Lehrbeispiel an Aktualität...“

Die Studie ist nicht nur eine glänzende Würdigung der damaligen deutschen Kunstgewerbeszene, sie macht auch den großen Einfluss Deutschlands und speziell Berlins auf die Entwicklung des späteren Architekturgenies Le Corbusier deutlich. Dass die aktuelle Retrospektive „Le Corbusier – Kunst und Architektur“ im Martin-Gropius-Bau gezeigt wird, erscheint da besonders trefflich, hatte er doch vor hundert Jahren als Dreiundzwanzigjähriger auch das Berliner Kunstgewerbemuseum besucht, das damals im heutigen Martin-Gropius-Bau angesiedelt war. Seine Studie, die erst jetzt übersetzt und wiederentdeckt wurde, war indes für das Vitra Design Museum Ausgangspunkt für die Ausstellung, in der Le Corbusier‘s Deutschlandbezug von hervorragender Bedeutung ist. Denn auch in den zwanziger Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflusste und berührte die deutsche Architekturszene das Werk des Ausnahmearchitekten.

Die Schau zeichnet aber auch ein differenziertes Bild des Architekten Le Corbusier, der lange Zeit kontrovers diskutiert und in der Auseinandersetzung von Moderne und Postmoderne sehr kritisch gesehen wurde. Seine umstrittenen städtebaulichen Konzepte führten zeitweise zu einseitiger Wahrnehmung. Und dass ein Haus „eine Maschine zum Wohnen“ und ein Stuhl „eine Maschine zum Sitzen“ sei – derartige Zitate haben den Architekten im öffentlichen Bewusstsein gar stigmatisiert. Deshalb ist es ein besonderes Verdienst der Kuratoren, Le Corbusier als wohl komplettesten und originärsten Architekten der Moderne und vielseitigen Künstler zu zeigen, der letztlich mit allem, was er schuf – ob als Architekt, Städteplaner, Maler, Designer oder Buchautor – am Ende eine „Synthese der Künste“ anstrebte. Insofern schafft es die Ausstellung, nicht nur in das Werk dieses für die moderne Architektur bedeutenden und einflussreichen Architekten einzuführen, sondern ihn zugleich mit zeitgenössischem Blick überraschend neu zu sehen.

Drei Bereiche strukturieren die Schau: Contexts, Privacy and Publicity und Built Art. Ausgehend von Biografischem und seinen Lebens- und Arbeitsstationen in seiner Heimatstadt, in Paris, Moskau, Lateinamerika, Nordafrika, New York und Indien, zeigt der zweite Bereich die Dialektik von privatem Raum und Außenraum als zentrales Thema in Le Corbusier‘s Werk, zu dessen wesentlichem Bestandteil seine Arbeit als Möbeldesigner und Innenraumgestalter gehört. Wohnkultur und Baukunst im Maschinenzeitalter zu vereinen, waren für den Architekten Anspruch und Doktrin zugleich. Schließlich dokumentiert der dritte Bereich seine Bauten als in seinem Sinne verstandene Gesamtkunstwerke, beispielsweise die Wohnmaschine in Marseille, die Kapelle von Ronchamp, der Philips-Pavillon von 1958 oder die indische Stadt Chandigarh, über deren Aufbau der beeindruckende Film von Alain Tanner zu sehen ist.

Wer nach dem Besuch im Martin-Gropius-Bau auf eine seiner Wohnmaschinen im Original neugierig ist, hat dazu in Berlin in der Flatowallee 16 die Möglichkeit. Dort steht Le Corbusier‘s Wohneinheit „Typ Berlin“. Sie enstand im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1957 und „verkörpert wie kaum ein anderes Gebäude die sozialen, städtebaulichen und architektonischen Leitbilder des frühen 20. Jahrhunderts.“ 

Reinhard Wahren

 

 

Ausstellung
Le Corbusier – Kunst und Architektur

Bis 5. Oktober 2009

Martin-Gropius-Bau Berlin
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin


 

40 - Herbst 2009