Neuruppin – Wiege der Mark

Nebel hängt an diesem Vormittag über dem Ruppiner See. Wie eine Traumgestalt grüßt Parzival, die 17 Meter große Stahlskulptur am Ufer. An der Seepromenade lässt es sich gut flanieren und den Gedanken nachhängen. Dann taucht ganz in der Nähe der Klosterkirche ein alter verknöcherter Baumriese auf. Er steht wie auf Stelzen, der uralte Stamm ist gespalten. Benannt wurde die im Jahre 1270 gepflanzte Linde nach Pater Wichmann von Arnstein, dem Gründer des ältesten Dominikaner-Klosters der Mark. Zahlreiche Legenden ranken sich um diesen Baum. Unweit der Wichmann-Linde befindet sich die Siechenstraße, eine der ältes-ten Straßen der Stadt. Hier hat der große Stadtbrand von 1787 einige der alten Handwerkerhäuser verschont. 

Gabriele Lettow begrüßt die Besucher im Up-Hus-Idyll. „Uphus bedeutet offenes Haus, wir haben hier ein kleines Restaurant, ein Hotel und eine Kirche“, sagt die Besitzerin, eine diplomierte Bauingenieurin, nicht ohne Stolz. „Es wurde um 1700 den armen und alten Neuruppinern gestiftet, die keine Angehörigen hatten und hier Obdach und Versorgung bekamen.“ Im ältesten Fachwerkhaus der Stadt lässt es sich in rustikaler Landhausatmosphäre heute vorzüglich speisen. Das Meisterstück der tatkräftigen Unternehmerin und eines eigens gegründeten Fördervereins ist aber die liebevoll restaurierte spätgotische Siechenhauskapelle. 

Von der Siechenstraße geht der herbstliche Spaziergang weiter in Richtung Neuer Markt. Auch er ist noch ein Teil des alten Neuruppin. Hier steht das einstige Predigerwitwenhaus, das eng mit den beiden großen Söhnen der Stadt verbunden ist, mit Karl Friedrich Schinkel und Theodor Fontane. 

Der in Neuruppin geborene preußische Baumeister lebte hier als Kind mit seiner Familie. Sein Vater hatte sich bei den Löscharbeiten in Zusammenhang mit dem Stadtbrand eine tödliche Lungenentzündung zugezogen. Als Junge erlebte Karl Friedrich Schinkel mit, wie die Stadt buchstäblich aus der Asche wieder auferstand. Am Reißbrett geplant, entstand vor seinen Augen eine preußische Mus-terstadt im Stil des Frühklassizismus. Eindrücke, die in dem zukünftigen Architekten bleibende Spuren hinterlassen haben mussten. 

Später gehörten auch die Mutter und die Schwester Theodor Fontanes zu den Bewohnerinnen des Predigerwitwenhauses. Für den Schriftsteller, längst aus Neuruppin weggezogen, ein Grund, seine Geburtsstadt immer wieder zu besuchen.

Hinter dem Neuen Markt dann weitet sich der Blick. Die Straßen werden breiter und die Plätze größer. Man spürt, was Fontane meinte, als er seine Heimatstadt etwas spöttisch mit einem „auf Auswuchs gemachten großen Staatsrock“ verglich, „in den sich der Betreffende, weil er von   Natur klein ist, nie hineinwachsen kann“. Tatsächlich scheinen die Häuser eine Nummer zu klein für die militärisch breiten Straßen der einstigen Garnisonsstadt. 

Über die Karl-Marx-Straße, wo der Dichter 1819 in der Löwen-Apotheke geboren wurde, als die Straße noch Friedrich-Wilhelm-Straße hieß, geht es in Richtung Fontane-Denkmal. Hier thront der große Spross der Stadt seit über 100 Jahren in Bronze gegossen auf einer Bank, neben ihm Hut, Stock und Schal. Mittlerweile ist Fontane zum größten Marketingfaktor der Stadt geworden. Seit 1998 trägt Neuruppin auch ganz offiziell den Bei-namen Fontanestadt. Alljährlich zu Pfingsten gibt es die Fontane-Festspiele.

Doch Neuruppin ist nicht nur Schinkel- und Fontane-Stadt. Neuruppin ist auch die Stadt der Bilderbogen. „Im 19. Jahrhundert kannte man die Stadt überregional vor allem wegen dieser Druckerzeugnisse“, sagt Hansjörg Albrecht, Direktor des Neuruppiner Museums. Das Programm der Neuruppiner Firmen sei überaus vielseitig gewesen. „Es wurden religiöse Motive, Genredarstellungen, Ankleidepuppen und Modellierbogen, Bogen mit Würfelspielmotiven, Herrscherporträts angeboten  genauso wie Darstellungen des Weltgeschehens.“ Mehr als 20 000 verschiedene Bilderbogenmotive wurden in den drei
Druckereien, der Gustav Kühns, Oehmigke und Reimschneiders sowie Friedrich Wilhelm Bergemanns, insgesamt hergestellt. In vielen deutschen Kinderzimmern fand sich selbst gebasteltes Papierspielzeug aus Neuruppin: Papiersoldaten, Prinzessinnen oder Hampelmänner. Stolz ist der Direktor auf die umfangreiche Sammlung des Museums, die insgesamt 12 000 Neuruppiner Bilderbogen umfasst. Das Museum ist somit Anlaufstelle für Sammler und Forscher aus aller Welt.

Um den ganz verschiedenen Aspekten der Stadtgeschichte besser gerecht werden zu können, wird derzeit das Neuruppiner Museum, übrigens eines der ältesten der Mark, neu gestaltet. Anfang 2014 soll es wieder eröffnet werden. Bis dahin müssen sich Be-sucherinnen und Besucher mit einer reduzierten Ausstellung in einem Ausweichquartier begnügen. Die Stadt ist also auch im nächsten Jahr allemal wieder einen Besuch wert.

Von Karen Schröder

 

56 - Herbst 2013