Druck mach ich mir selbst

Jeff Tomlinson, ehemals Stürmer, ist seit dieser Saison Cheftrainer beim deutschen Eishockey-Meister in Berlin.

Er ist wieder angekommen in seiner Wahlheimat. „Das ist toll. Hier würde ich gern bleiben. Ich fühle mich wie zu Hause“, versichert Jeff Tomlinson beim Blick aus dem großen Fenster seiner hellen Wohnung im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Um diesen Blick und die Atmosphäre der Stadt dauerhaft genießen zu können, hat er im Sommer einen komplizierten Job angenommen: Als neuer Trainer soll Tomlinson die Eisbären dauerhaft auf dem Thron des deutschen Eishockey-Meis-ters etablieren.

„Die Aufgabe schreckt mich nicht. Im Gegenteil: Ich bin begeistert“, sagt der 43-Jährige zu Beginn einer Liga-Saison, in der seine Mannschaft als Titelverteidiger der von allen anderen Vereinen Gejagte sein wird. „Alle fragen mich, wie ich dem Druck begegne. Aber das ist falsch formuliert. Den Druck mache ich mir selbst. Als Sportler willst du doch sowieso immer gewinnen. Wer was anderes sagt, der ist kein Sportler.“

Die Verpflichtung des gebürtigen Kanadiers, der seit vielen Jahren nur noch den deutschen Pass hat, war Anfang Juli keine Überraschung. Schließlich verbrachte der einstige Profi bereits zahlreiche Jahre bei den Eisbären und ist hier heimisch geworden. Die in der Tat germanischen Wurzeln kann er nicht mehr genau verfolgen. „Ich habe deutsche Großeltern, sie hießen Meissner und Klaaßen. Aber ich weiß nicht einmal, wo sie gewohnt haben. Ich habe sie leider nicht mehr kennengelernt. Trotzdem: elf Jahre Berlin – das ist fast die längste Station meines Lebens“, sinniert er und rechnet nach, dass selbst seine Geburtsstadt Winnipeg mit 16 Jahren nur noch einen schmelzenden Vorsprung hat. Vier Jahre als Spieler, und ab 2000 schlossen sich sechs weitere als Trainer an, zuerst verantwortlich für Jugendmannschaften, dann als Assistent von Chefcoach Don Jackson. Da ist es verständlich, dass Tomlinson Berlin mittlerweile als seine Heimat bezeichnet.

Davor und dazwischen lagen einige Stationen, von denen Tomlinson selbst wie aus weiter Vergangenheit erzählt. Die drei Jahre bei Manchester Storm Ende des vergangenen Jahrtausends beispielsweise, denn England zählt nun nicht eben zu den Magneten des Eishockeysports. „Wir waren eine Super-Mannschaft dort“, schwärmt der frühere Profi trotzdem von der Zeit zwischen 1997 und 2 000. „Allerdings waren wir sämtlich Kanadier, gut bezahlt von einer Fernsehstation. Wir haben im Europa-Vergleich die ganzen Skandinavier besiegt. Aber als der Sender die Lust am Eishockey verlor, ist das Team auseinanderge-flogen.“

Nun hat Tomlinson in Berlin seinen einstigen Chef Jackson beerbt und ist selbst Bestimmer für den sportlichen Jahresablauf beim Titelverteidiger im ständigen Wettlauf um die deutsche Meisterschaft. Dass Eishockey ein Tempospiel ist, will der Coach in jeder Übungseinheit durchsetzen. Dabei kehrt er nicht den Oberst heraus, sondern pflegt mit den Profis einen vertraulichen Umgang. „Das ist in Kanada so üblich. Ich konnte mich am Anfang schwer an die deutsche Förmlichkeit mit dem ständigen Sie gewöhnen.“ Geübt hat er die Cheftrainer-Rolle bereits bei den DEL-Vereinen in Düsseldorf und Nürnberg, wo er sehr erfolgreiche Arbeit leistete. 

Als der Eishockeyprofi wegen einer irreparablen Knieverletzung 2004 seine Karriere beenden musste, war die Lebensplanung eine andere. „Ich hatte zwar Schweißausbrüche, weil ich mir ein Leben ohne Eishockey nicht vorstellen konnte. Aber Trainer wollte ich nie werden.“ Ein Wirtschaftsstudium, um später in den Aktienhandel einsteigen zu können, hatte er sich vorgenommen. Bis ihn Eisbären-Manager Peter John Lee ansprach, ob er sich nicht eine Anstellung im Club vorstellen könne, die mit der Jugendarbeit verknüpft ist. „Da musste ich eigentlich gar nicht überlegen. Ich habe sofort angenommen.“ Tomlinson hatte den Aufstieg der Eisbären vom belächelten Schmuddelkind der Liga zum Krösus im Schnelldurchlauf miterlebt. „Damals habe ich mir gesagt: Wenn ich den Verlauf der Eisbären in Aktien ausdrücken müsste, wären sie jetzt auf dem Höchststand.“ Doch es wurde noch besser.

Als Spieler hatte er auch das Gegenteil erlebt. 1997 stand Tomlinson ein paar Partien für den Erzrivalen Berlin Capitals auf dem Eis. „Da habe ich immer so komische Gesänge gehört, die ich mir nicht erklären konnte. Mitspieler haben mir das übersetzt, aber der Sinn ist mir erst später klar geworden“, lacht er und zitiert die längst verstummten Schmährufe der Anhänger eines abgestorbenen Vereins wie „Ihr fahrt Skoda – und wir BMW“ oder „Wir haben Bananen – und ihr nicht“. Relikte einer Zeit, die bei den Eisbären-Fans heute nur noch Hohngelächter aufkommen lassen.

Überhaupt die Fans – für Jeff Tomlinson einer der Gründe, die Eisbären als europäisches Phänomen zu betrachten. „Im Welli war immer eine Riesenstimmung“, erinnert er sich an die Punktspiel-Partys im heutigen Trainingsgelände Hohenschönhausen. „Dass das auch in die riesige Arena am Ostbahnhof zu übertragen ist, habe ich nicht geglaubt. Aber es geht: Heute ist da genau die gleiche Party. Bei jedem Spiel.“

Kein Wunder, dass Tomlinsons Söhne während der ersten Eisbären-Zeit stolz in den Vereins-Jerseys umher-liefen. „Obwohl beide nichts mit meinem Sport am Hut haben“, wie der Vater etwas bedauert. Trotzdem hat er allen Grund, auf die beiden stolz zu sein. „Guck mal, Zac ist sogar im Internet“, sagt er und ruft sofort ein Filmchen auf, bei dem der zwölfjährige Zackary halsbrecherisch mit einem Seil turnt. „Zac ist Weltmeister im Seilspringen und hält sogar einen Weltrekord“, verkündet der Papa. Wahnwitzige 184 Durchschläge in 30 Sekunden hat der Filius geschafft, der in Berlin geboren ist.

Der zwei Jahre ältere Conner biegt nicht auf die sportliche Schiene ein. „Er ist hochbegabt, müsste eigentlich auf die Uni gehen, weil er für Schulunterricht längst zu gut ist“, schildert der Vater. Mathe, Chemie, Physik – die Angstfächer der meisten Jungs sind sein Hobby. Doch auf die Uni darf der in Manchester geborene Conner erst mit 16, nimmt nun Privatunterricht. „Und“, ergänzt Jeff, „er spielt zehn verschiedene Instrumente. Na, von mir hat er das nicht.“ Den Sommer über waren beide Söhne mit der Oma in Berlin. Zu Beginn der Saison ging es zurück nach Übersee, wo sie bei der Mutter leben.

Das sieht der Tomlinson nicht nur mit weinenden Augen. „Klar, es ist schön, viel Zeit mit den beiden zu verbringen. Aber während der Meisterschaft habe ich die nicht. Dafür gibt es viel zu viel zu tun bei den Eisbären.“

Hans-Christian Moritz

 

56 - Herbst 2013
Sport