Ich bin eine Langstrecklerin

Claudia Pechstein ist Deutschlands erfolgreichste Wintersportlerin. Nun will sie bis zu den Olympischen Spielen 2018 weiterlaufen. Und vor Gericht streiten.

Claudia Pechstein kann ganz herzlich lachen. Wie andere freut sie sich über Späße, macht selbst Scherze. Doch das zeigt die 42 Jahre alte Berlinerin inzwischen nur noch im Kreise der Familie und ihrer engsten Freunde. Deswegen lächelt sie zwar bei ihrer als Pointe gedachten Bemerkung, aber sie presst den Satz zwischen den Zähnen hervor, wie sie es in den vergangenen fünf Jahren verinnerlicht hat. „Ich bin nun mal auf den langen Strecken zu Hause“, sagt Deutschlands erfolgreichste Wintersportlerin und genießt die Vielseitigkeit dieser Aussage.

Dass Pechstein bei den Olympischen Spielen von Sotschi im vergangenen Winter wieder einmal die erfolgreichste deutsche Eisschnellläuferin geworden ist, hat die Pläne der drahtigen Frau noch einmal umgekrempelt. Eigentlich wollte die Bundespolizistin ihre einzigartige Karriere bei den Spielen am Schwarzen Meer im Februar mit einer Medaille abschließen und diese Plakette dem Weltverband ihrer Sportart symbolisch nicht nur vor die Füße, sondern mitten ins Gesicht werfen. Schließlich haben ihr diese Funktionäre eine Karriere beschmutzt, die selbst von ihren Gegnern als grandios bezeichnet wird. Dank dieses Verbandes sind zwar die Gegner geblieben, doch die zahllosen Neider der fünfmaligen Olympiasiegerin sind zu Feinden geworden. Und nur deshalb ist ein vor langer Zeit als Scherz für die Medien gedachter Satz zum Lebensinhalt Pechsteins geworden. „Pyeongchang soll ja auch eine schöne Stadt sein“, ulke die Berlinerin einst auf die Frage, wann sie ihre Laufbahn auf Schlittschuhen beenden will. Alle notierten und sendeten das – und das Volk lachte.

Schließlich ist Pyeongchang die Stadt in Südkorea, die 2018 die Olympischen Winterspiele ausrichtet. Claudia Pechstein ist dann 46 Jahre alt. Andere sind da längst Mutter, vielleicht schon Oma. Manche rechnen bis zum Ruhestand oder zur Altersteilzeit. Pechstein will sich dann erneut mit den schnellsten Schlittschuhläuferinnen der Welt messen und das nachholen, was sie in Sotschi knapp verfehlte: ihre zehnte olympische Medaille holen. Denn das haben ihr die verhassten Funktionäre des Weltverbandes verdorben, als sie der bis dahin untadeligen Sportlerin 2009 ein Dopingvergehen andichteten und die Teilnahme an den Spielen 2010 in Vancouver verboten. Nach anfänglicher, aber kurzer Schockstarre setzt sich die Berlinerin seitdem gegen diesen schwarzen Fleck auf ihrer goldenen Vita zur Wehr und gibt all ihr Preisgeld und noch mehr aus für ein stattliches Heer von Anwälten. Doch selbst diese erlesene Schar von Juristen läuft sich seit einem halben Jahrzehnt die Hacken wund gegen eine Mauer aus Schweigen und Ignoranz, die der Weltverband der Eisschnellläufer und eine sich für unfehlbar haltende Sportgerichtsbarkeit errichtet hat.

„Ich bin eine Langstrecklerin“, sagt Claudia Pechstein noch einmal. Damit meint sie nicht nur die völlig unerwartete Erweiterung ihrer seit 1992 andauernden Olympia-Karriere, sondern auch den Marathon durch die Gerichtssäle dieses Kontinents. Immer wieder schlagen die Juristen ihre Klagen zurück wie die Tennisspieler einen Return, doch die 42-Jährige feiert mittlerweile kleinste Erfolge wie große Siege und ist inzwischen dabei, die gesamte Sportgerichtsbarkeit auszuhebeln. Längst geht es nicht mehr nur um ihre seltsamen Blutwerte, die sie nachweislich von ihrem Vater Andreas geerbt hat. Jetzt will Pechstein ihre Weste so weiß waschen, dass die in sich verliebte und gegen die Schlittschuhläuferin mauernde Gerichtswelt des Sports dabei auf der Strecke bleibt. Ein bisschen hat sie die Tür zu diesem Vorhaben geöffnet. Denn bei ihrem ers-ten Fehlversuch von dem Landgericht München unmittelbar nach den Wettbewerben von Sotschi wurde den Sportlern zugestanden, ihre Probleme mit Verbänden und Funktionären auch vor zivilen Richtern austragen zu dürfen. Was bisher durch Knebelverträge vor Wettkämpfen untersagt war und Pechstein als ungerecht empfand. Wie viele andere auch. Doch ist sie die Einzige, die dagegen anging. Für viel Geld. Ihr Geld. „Ich bin in meinem Leben so oft auf Doping kontrolliert worden, da müssen Kesselwagen davon voll werden“, sagt sie leise. Doch das stört sie nicht mehr. Auch in Sotschi nicht, als sie die am meisten von Kontrolleuren heimgesuchte Athletin war. Im Gegenteil: Inzwischen veröffentlicht die Berlinerin auf ihrer Homepage selbst Werte, um zu zeigen, dass die geerbte Blutanomalie weiter besteht. Grotesk: Heute würde Claudia Pechstein dafür nicht mehr belangt, geschweige denn bestraft. Es bohrt wie ein Nagel in ihrer Seele, dass der Weltverband sie als erste und einzige Sportlerin für zwei Jahre von allen Wettkämpfen – und für eine Berufssportlerin damit von allen Einnahmequellen – fernhielt, ohne dass jemals ein Beweis für ihre Schuld vorgelegt wurde. Schon allein deswegen dehnte die Berlinerin ihren Gerichtsmarathon so aus, dass sich Sportler gegen solche Anschuldigungen auch

vor zivilen Richtern wehren können, die keinem Verband hörig sind.

In Berlin kursiert der Spruch, dass Claudia Pechstein auch dann noch läuft und klagt, wenn der neue Flughafen in Schönefeld längst in Betrieb ist. Wetten sollte man darauf nicht platzieren, aber bei der Hartnäckigkeit und dem Gerechtigkeitssinn der Athletin ist dieser Vergleich durchaus gerechtfertigt. „Ich bin eben eine Langstrecklerin“, sagt sie erneut und zieht auch in diesem Monat ihre unzähligen Trainingsrunden auf der überdachten Heimatbahn im Sportforum von Hohenschönhausen. Bis zum Sieg vor Gericht ist es noch lang. Ihr Anwalt Thomas Summerer schlug vor zwei Jahrzehnten eine Millionensumme an Schadenersatz für die Neubrandenburger Leichtathletin Katrin Krabbe heraus. Das dauerte viele, viele Monate. Und noch länger hin ist es bis zu den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang. Aber Claudia Pechstein ist eine Langstrecklerin – und immer noch Deutschlands beste Eisschnellläuferin.

Hans-Christian Moritz

 

 

58 - Frühjahr 2014
Sport