Das Haus als ein Ort des Rückzugs und der Geborgenheit ist Ausdruck einer archetypischen Sehnsucht. „Das Haus“ der dänischen Architektin Louise Campbell, ein Modell in offener Blockkonstruktion mit Schindelverkleidung, sorgte auf der Kölner Möbelmesse für Furore.
Es war die Wohlfühlstätte im Glasbetonrollentreppen-Ambiente und ein Ort für die Tagträume über das Hier und Jetzt und die Zukunft. Wer hätte sich nicht allein schon gern in die 60 Quadratmeter Schlaf- und Liegefläche unter Dachschrägen gerollt, die aus Schneewittchens Besuch bei den „Sieben Zwergen“ herzurühren schienen, fröhlich am Tisch gemeinsam mit – nein, nicht sieben, sondern 16 Gästen gespeist und debattiert? Man hätte ein Kanu reparieren können oder sonst einem praktischen Einfall frönen, denn Zange und Kochlöffel hat Louise Campbell dicht bei dicht an eine überdimensionale Werkwand drapiert, an der auch Näh- und Flickzeug nicht fehlten und zur Tat aufforderten. Die Dänin modelliert ein entschleunigtes Zuhause, ein Versprechen gegen das Alleinsein, mit genügend Raum für Individualität, einfach und erlesen zugleich. Erdbeerlachs bis Silbergrau die Farben, natürliche Texturen, gepixelte Muster. Handgemachtes strahlt Intensität aus. Es ist ein Vorschlag für „urbanes“ Landleben, eine Alice-im-Wunderland-Puppenstube für design-orientierte Erwachsene mit Kind und Kegel. Etliche Messebesucher schienen für ihre jeweilige Verweildauer die eigene Hektik ebenso vergessen zu haben wie sie vielleicht Lust bekamen, den Schuhschrank zu Hause zu reparieren, das Kinderbett neu zu streichen oder überhaupt alles zu entkernen und ein bisschen nachzuahmen.
„Das Haus“ funktionierte mit seinen schönen und praktischen Möbeln („Houdini Chair“ von Stefan Dietz, Garderobe „hung up“ von Anonym-Design, und dem bezaubernden Netz-werk „Veryround Chair“, Louise Campbell) und Accessoires als ein Sehnsuchtsort, reizt architektonisch die Grenzen des offenen Wohnens aus und antwortet auf Genderfragen mit einer gegenseitigen Durchdringung von weiblichen und maskulinen (Haus-) Sequenzen. Die Mitte der Tisch („Slim“ von Bertjan Pot). Sinnlich, praktisch, energieeffizient, ferngesteuert, sesshaft, nomadisch – diese Frage kann jeder für sich selbst am besten beantworten. Die meisten wählen das Entdeckerprinzip für ihre Einrichtung, basteln ihr Heim aus Intuition und Erfahrung, spähen hie und da und wählen sorgfältig ihre Grundbausteine und Lieblingsstücke. Auch die ebenso bequeme wie zumeist exklusive Variante gibt es. Man sucht Komfort und Gestaltung aus einer Hand und bestellt bei seinem Lieblingsmöbelhaus die komplette Einrichtung inklusive der vorherigen Stilberatung. Tisch und Gardine, Tapete und Sofa sind dann bestens abgestimmt und man muss nur noch achtgeben, dass man auch selbst hineinpasst. Die Münchnerin Chris-tine Kröncke reagiert seit vierzig Jahren mit „kompletten Soforteinrichtungen“ auf derartige Kundenwünsche. Alle sieben Jahre gibt es ein neues Programm, sorgfältig gearbeitete Möbel, feminine Leichtigkeit, Leder, Metall, Samt und Seide.
Kombinatorik und Module. Der Renner eine Lampe in über 300 Varianten und dabei immer gleich. Man sieht die Teestündchen vor Augen. Die
Möbel so fein wie das Gebäck. Oder ein Champagnerglas und gehobene Konversation. Wir brauchen uns nur um die eigenen vier Wände zu kümmern, die Möbelindustrie aber hat Milliarden Menschen im Blick und denkt global. Ursula Geismann, Verband der Deutschen Möbelindustrie, öffnete einmal mehr die Augen für das extrem unterschiedliche Wohnen, das vom Kleinstappartement in China bis zum Norddeutschen Haus, von der Hongkonger Luxuswohnung zum Penthouse in Dubai reicht. Der Markt hat seine eigenen Argumente und präsentiert weltweit jährlich rund 5 000 neue Produkte. Individualität generiert sich dabei schon aus der Montage und drückt sich etwa so aus: Ein kleines Sofa kann in über 400 Varianten produziert werden. Auf Kundenwünsche angepasst werden z. B.: Breite, Tiefe, Höhe, Bezugsstoff, Fußauswahl, Sitzhärte, Verstellbarkeit – mechanisch oder elektrisch – Bioverträglichkeit usw.
Was wird anders?
Asien trifft Afrika und grüßt Europa. Daraus wird ein Muster und Stilmix, der „unserer Melting-Pot-Gesellschaft“, dem Reisen und Entdecken zum Ausdruck verhilft (Trendfirma Carlin). Rohr verbindet sich mit Leder, Bast wickelt sich um moderne Schalenstühle. Schnüre werden verflochten und zu Sitzflächen gespannt. Aus vietnamesischen Magazinen wird die Wabenlampe „Hallelujah“ verklebt (Label „Wonderable“, NL). Der allgemeinen Reizschwelle, dem Burning Out als Lifestylerkrankung und Krisensyndrom wird mit weich und warm, mit sanft und still als Stilqualitäten begegnet. Design zeigt sich auch romantisch, sinnlich, Jules-Verne-utopisch. Weniger ist (zarter und) mehr. Aus den Ozeantiefen sprudeln nicht nur Ideen. Was konnte man entdecken? Sofas gibt es nicht mehr nur als weiträumige Lümmelwiesen sondern auch als charmante Salonmöbelchen wie das „Oslo Sofa“ von Anderssen&Voll (Muuto). Die Farben werden bunter und leuchten. Allein die Klassik-Italiener wie Minotti wissen um Distinguiertheit und halten an Silbergrau und Petroltönen fest und verführen ihr Publikum mit exzellenten Stoffen. Als eine Überraschung mag noch immer die junge italienische Firma Kristalia gelten – Begeisterung weckten die „Elephant“-Serie, ein Stuhl mit weichem Schalensitz, den es auch zum Schaukeln gibt, und der Esstisch „Boiacca wood“ für Soft-Minimalisten von Lucidi Pevere. Aus einem gewachsenen Komfortbedürfnis heraus wird die Holzbank zugunsten von Esssesseln – ein tausendfüßlerhaftes Konsonantenwort – verdrängt. Man kann von jedem Lieblingsdesigner einen erwerben, denn bunt gemixt werden sie um den Tisch drapiert. Apropos Tisch – einen Interieur Innovation Award gab es für den Tisch „Aetas“, eine lichte Kreation aus London (Vitamin Design), obgleich auch schwerere Eichendinger mit allerhand Verstellmechanismen nach wie vor angesagt sind.
Puristische Sekretäre posieren in farbig betonten Raumnischen und wollen glauben machen, dass man wirklich ohne Papierberge und Krimskrams auskommt oder eben zwischendurch mal etwas ins Notebook oder eben doch auf ein Zettelchen notiert. Das Regal ist längst zum Puzzle konvertiert oder besser zum Lieblingsobjekt für Designer, die aus dem Staumöbel für Bücher schneeweiße Wandarchitektur machen wie Ka-Lai Chan mit „SheLLf“. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass das zuvor bei Muuto entwickelte „Stecked shelving“ von Julien De Smedt namensverwandt scheint. Beim Letzteren wachsen offene Quader zum variablen Hochhaus, beim Ersteren sorgen Schrägen und schiefe Ebenen für variable Perspektiven. Seit einigen Jahren schon wird Vielfarbigkeit gegen Weiß ins Feld geführt. Zugegebenermaßen gibt es wunderschöne Pigmente, sanft und edel, Farben, die Räume verzaubern: Orchideenrosé trifft auf Perlgrau. Licht ist ein Hauptthema und zeigt sich neben puristischen Solitären vor allem in Hängeleuchtenschwärmen oder zumindest als Dreiklang. Messing, Kupfer, Rotgold – Metalle, die damals wie heute auf Basaren zu schönen Alltagsgegenständen getrieben wurden, verströmen modernen Glanz manchmal nur als Knopf oder Niete, aber auch als Beistelltisch mit polierter Reinstoberfläche. Tom Dixen (Designer des Jahres der Pariser „Maison&Objet) punktet in wahrsten Sinne des Wortes mit seiner kupferperforierten, diamantförmigen Pendelleuchte „Cell Tall Pendant“. Wir sind jetzt „neoökologisch“ und suchen nach neuen Strukturen. Gehört die zimmerhohe Mooswand (Firma Freund) auch schon dazu? Für das pelzige Grün im Raum wird nicht der Kiefernwaldboden rund um Berlin abgegraben sondern kanadische Farmen züchten Moose für die süddeutsche Firma. Man kann alles machen, daran lässt die Messe keinen Zweifel. Korkwände und Ledertapeten, Holz in allen Wuchsarten, freistehende Badewannen und Waschbecken, die Wellnessoase mit einprogrammierter Morgenmusik samt Lichtorgel, Dampf und Duft. Was ist nicht alles möglich! Die Frage bleibt, was brauchen wir?
Von Anita Wünschmann