Max Frischs „Berliner Journal“ nach 20-jähriger Sperrfrist

In Zeiten einer ausgeprägten Schreibblockade kann ein Wohnortwechsel Wunder tun, so glaubte der 61-jährige Max Frisch, als er 1973 für einige Jahre nach Westberlin zog. Genauer gesagt in die beschauliche Sarrazinstraße nach Friedenau. Und tatsächlich, das andere Klima, der offenere Himmel trugen zu zeitweiser Hochstimmung bei. Das Älterwerden quälte weniger. Doch nicht das Wetter war es, das Frisch in erster Linie an Berlin faszinierte. Da waren die neuen Freunde, darunter Uwe Johnson und Günter Grass. Die Kollegen erleichterten ihm den Start. Ein fruchtbarer intellektueller Austausch begann. Man half den Neu-Berlinern auch ganz praktisch. Der eine besorgte ihm einen Schreibtisch, der andere lieh den Frischs für den Anfang ein Bett. 

Spannender als die Westberliner Öffentlichkeit  war für den viel gelesenen Schweizer Schriftsteller jedoch die Nähe zum Osten. „DDR-Berlin“, wie er es nennt, die in seinen Augen so andere und doch so nahe Welt. Hier spürte er den Riss, der durch Europa ging. Gleich nach dem Einzug laufen in der halbleeren Wohnung DDR-Sender in seinem Transistorradio. Max Frisch, der sich als Anti-Kapitalist versteht, ist von der Provinzialität und Enge der DDR-Propaganda abgestoßen, gleichzeitig sucht er immer wieder auch Kontakt, sowohl zu Funktionären als auch zu oppositionellen Kollegen. „Sie nehmen es nämlich ernst, das Geschriebene, ich bin schon ganz neugierig, wie man sich als Schriftsteller fühlt, wo Literatur ernst genommen wird“. Er ist denn auch ein sehr genauer Beobachter und bestaunt den relativ großzügigen Lebensstil eines Jurek Becker oder Günter Kunert. Auffallend für ihn die erlesene Einrichtung der Häuser. Immer wieder  war er auch privat zu Gast. Schriftsteller im Westen würden ihrem Wohnumfeld nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, stellt er erstaunt fest. Akribisch seziert er das Verhalten seiner Gesprächspartner und versucht psychologisch zu deuten, was er erlebt. Wolf Biermanns freier Geist fasziniert ihn und die Souveränität einer Christa Wolf. Ihm begegnet in der DDR große Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft, aber auch Verzagtheit und Resignation. Um die Relevanz ihres Tuns  beneidet er die ostdeutschen Schriftsteller. Kunst passiert immer vor einem sozialen Hintergrund, wer wüsste das besser als Frisch. Biermann im Westen, schreibt der Schweizer lange vor dessen Ausbürgerung hellsichtig, wäre nicht der Biermann. Gewicht und Kraft ginge verloren.

Dem Nachwortschreiber seiner Bücher, einem parteinahen Literaturwissenschaftler, begegnet er mit wohlmeinender Nachsicht. Er versetzt sich immer wieder in die Position seines Gegenübers, bricht über keinen seiner Gesprächspartner voreilig den Stab.

Die geteilte Stadt interessiert ihn auch als Denkmodell, in seiner Fantasie spaltet er Zürich und treibt den Gedanken ins Absurde fort. Max Frisch ist auch in seinem Berliner Journal, es ist aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nur in Auszügen ediert, ein begnadeter Tagebuchschreiber. Der umfangreiche Anhang erklärt, was sich nicht von selbst erschließt.

Karen Schröder

 

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal,
Suhrkamp Verlag 2014,
235 Seiten,
20,– Euro

 

 

 

 

 

59 - Sommer 2014
Kultur