Die Berliner Künstlerin Sylvia Günther profiliert sich mit Videolyrik auf der Leipziger Buchmesse.
„Ich fühle mich bereit, die Berliner Szene aufzumischen“, sagt Sylvia Günther und lacht. Aber genau genommen hat sie dies schon getan, mit ihrem viel beachteten Gedichtband „Lavaherz“, mit ihren assoziativen Fotografien zu ihren Versen, mit „Videolyrik“ und dem Projekt „KomprimArt“ – und sie geht immer weiter. In ihrem Kopf und zum Teil schon im Laptop schlummert ein Buch, in dem sie Deutschland 25 Jahre nach dem Mauerfall betrachten will.
Sylvia Günther ist sozusagen eine „junge Wilde“ mit einer Menge Lebenserfahrung. 1958 in Bad Frankenhausen geboren, in Naumburg und Halle aufgewachsen, machte sie ihr Abitur in Rostock. Die Mutter ist Industriekaufmann, der Vater Journalist. Der Umgang mit Wörtern muss sie schon immer begeistert haben, denn als Studium wählte sie Germanistik und Anglistik, zuerst in Jena, dann in Berlin. Sie ist agil, ehrgeizig. Sie leitet Jugendklubs, in Marzahn und Ahrensfelde und den „Der jungen künstlerischen und technischen Intelligenz“, da gerät sie mit staatlich vorgegebenen Erziehungszielen etwas in Clinch, eine freie Aspirantur wird ihr angeboten, sie gründet eine Familie und erleidet fünf Fehlgeburten. Nein, sagt sie sich: Man kann nicht alles schaffen. Doch sie findet in dieser Zeit zur Lyrik. 1984 sagt einer: „Schreib doch mal ein Gedicht“ – sie schreibt einfach so. Es wurden drei – und die waren verdammt gut. Und das allererste ist auch in ihren Band „Lavaherz“ eingegangen. Anfang der 90er- Jahre arbeitet sie für „infas“, baut ein Interviewernetz aus. 1992 wird Sophia-Leonora geboren, 1995 ihr Sohn. Beide sind hochbegabte Musiker und Sylvia Günther entwickelt ein unglaubliches Organisationstalent: arbeiten, Haushalt, Kinder zu entsprechenden Musikstunden fahren, abholen. Das lyrische Denken bleibt. Manchmal schafft sie nur wenige Gedichte pro Jahr. Ihre Gedichte sind voller Wortschöpfungen und Metaphern, die Dinge, Natur und Menschen in einen neuen Zusammenhang rücken. In vielen ihrer Arbeiten blüht eine zarte Erotik, die wunderbar doppeldeutig ist. Sie schreibt gegen die Vergänglichkeit unserer Wahrnehmungen an. „Wir müssen zu unseren Gefühlen zurückfinden“, beschreibt sie ihre Botschaft.
Doch Mitte der 1990er-Jahre schlummern all diese Verse, Gedanken noch in ihr. Sie trifft Jan Christ, den Schriftsteller, dessen frühe Werke eher gesellschaftskritisch waren und dessen jüngere Arbeiten einen eher experimentellen Charakter haben. Er befeuert sie. Unter den vier Gedichten, die er von ihr gelesen habe, sei ein Meisterwerk. Jetzt bricht bei ihr der selbst auferlegte Bann, die Scheu verfliegt, die Dichterei als privates Hobby zu sehen. Oder war es einfach nur das richtige Wort zur richtigen Zeit. Egal, mit Anfang 50 dreht sie ihr Leben. Organisiert sich als Dichterin und beschreitet neue Wege. Zunächst gefallen ihr die Fotos nicht, die ihrem Erstling „Lavaherz“ beigegeben werden sollen. Sie fährt nach Lanzarote und fotografiert selbst. 2010 liest sie aus „Lavaherz“ auf der Frankfurter Buchmesse. Sie ist selbst ganz verblüfft über ihr Heraustreten in die Öffentlichkeit. Die sie lesen hören, finden, dass sie ein tolle Stimme habe, ihren Gedichten so eine neue Dimension gegeben werde. Gesagt getan. Für die Aufnahmen im Tonstudio braucht sie noch nicht mal eine Probe. Schließlich glaubt sie, ihnen noch mehr Leben einhauchen zu können – mit bewegten Bildern. „Videolyrik“ nennt sie dies und ist damit eine Vorreiterin. 2014 stellt sie ihren Videolyrik-Band „Öffnet ein Fenster die Nacht“ auf der Leipziger Buchmesse vor.
Martina Krüger