Vor hundert Jahren kaufte Walther Rathenau Schloss Freienwalde, in das er sich wochenlang zurückzog.
Die Berliner haben von jeher eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Umland. Vielleicht würden sie es gar nicht aushalten ohne die sie umgebende Natur, in die sie ab und an eintauchen können, um Abstand vom Großstadttrubel zu gewinnen – und sei es nur für kurze Zeit. Wer sich allerdings im ländlichen Brandenburg in einer Art Parallelwelt einrichten will, kommt ohne festen Landsitz nicht aus. Derartige Gedanken müssen Walther Rathenau vor hundert Jahren durch den Kopf gegangen sein, als er unterwegs in der Mark nach einer geeigneten Immobilie suchte.
Dass er für sich in Bad Freienwalde gleich ein Schloss auserkor, hat sicher mit seiner ganz eigenen, faszinierenden Persönlichkeit zu tun, die zu beschreiben schon damals die Geister spaltete. Als Sohn von AEG-Gründer Emil Rathenau war er einerseits erfolgreicher Industriefürst, Präsident des größten Elektrounternehmens Europas und Mitglied in vielen Aufsichtsräten im In- und Ausland, vom Kaiser als Gesprächspartner geschätzt, mit berühmten Wissenschaftlern, Künstlern und Bankiers bekannt und Mittelpunkt der feinen Berliner Gesellschaft, verwandt mit dem berühmten Max Liebermann, am Ende visionärer Außenminister der frühen Weimarer Republik. Andererseits galt er als „Christus im Frack“, weil er genau diese Gesellschaft, welcher er Reichtum und Erfolg verdankte, in Aufsätzen und Schriften mit sozialliberalen und provokanten Thesen kritisierte. Derart Widersprüchliches stieß natürlich bei so manchem seiner Zeitgenossen auf wenig Verständnis. Der Erwerb des Schlosses in Bad Freienwalde verstärkte noch die ambivalente öffentliche Meinung. „Ein eitler Mensch – und ein sehr innerlicher Mensch“, schrieb beispielsweise der spitzzüngige Kritiker Alfred Kerr über den schillernden Großindustriellen. Doch gerade Bad Freienwalde war für Walther Rathenau jener Zufluchtsort, wo er seine zweite Natur auslebte. Wo er in stiller Natur Gedanken niederschrieb, die so gar nicht zur Glamourwelt der Großbourgeosie passten.
Zunächst verstand er die Restaurierung des Schlosses, einst Sommersitz von Friederike Luise (1751–1805), der Gemahlin König Friedrich Wilhelms II., als kulturhistorischen Auftrag. Das hieß, so viel wie möglich von der alten Substanz zu bewahren. So ließ er das Schloss mit Hilfe des Kunsthistorikers Hermann Schmitz und des Architekten Johannes Kraatz derart umgestalten, dass es weitestgehend dem historischen Stil entsprach, aber auch seinen eigenen Bedürfnissen – und wie es heute noch mehr oder weniger erhalten ist: Schloss und Park als eine Art selbsterschaffenes Refugium. Hier ging Rathenau seinen Hobbys nach und beschäftigte sich mit Philosophie, Politik, Kunst und Literatur. Oft zog er sich wochenlang zum Schreiben auf sein Schloss zurück und war ganz Schriftsteller. In seinen wichtigsten Werken erweist er sich als scharfsinniger Analytiker seiner Zeit mit ihren enormen Möglichkeiten, aber auch großen Gefahren. In seinen sozialkritischen Texten plädiert er gar für eine Neuordnung der Wirtschaft, attakiert die Großindustrie, den eigenen Stand, der ihm sein Luxusleben ermöglicht, und ist für die Abschaffung des Erbrechts. Als offenbarte sich in der Einsamkeit der Natur sein zweites Ich.
Aber ein Eremit wollte er auf seinem Landsitz nicht sein, legte sogar besonderen Wert auf Besuche. Zu seinen Gästen gehörten Geschäftspartner wie die Bankiers Fürstenberg, Mosler und Gutmann, der AEG-Direktor Felix Deutsch sowie Künstler und Literaten wie Carl Sternheim, Gerhart Hauptmann, der Verleger Samuel Fischer und sein späterer Biograph Harry Graf Kessler. Während allerdings beispielsweise Hauptmann zu seinen Freunden zählte, der den Schlosskauf als „Kulturtat Rathenaus“ würdigte, mokierten sich andere wie Stefan Zweig darüber oder sahen in Rathenau eher einen von Großmannssucht Getriebenen. Den genialen Weitblick dieses außergewöhnlichen, universal gebildeten, äußerst widersprüchlichen Geist übersahen sie darüber. „Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache, nicht Anspruch, sondern Verantwortung“: Wer so etwas vor hundert Jahren schrieb, war seiner Zeit gedanklich weit voraus. Dem Leben Walther Rathenaus gerade hier nachzuspüren – im Schloss befindet sich ein Museum –, ist wegen der reizvollen Landschaft am Rande des Barnim besonders lohnenswert. Wanderwege beiderseits der B158 führen entweder vom Schlosspark aus zum Ruinen- und Akazienberg, oder auf der anderen Seite zum Galgenberg oder zu den Fischer- und Heidelbeerbergen. Von etlichen Aussichtstürmen aus weitet sich der Blick bis hin zum Schiffshebewerk Niederfinow, nach Oderberg oder zur Auenlandschaft des Oderbruchs.
Reinhard Wahren