Brille: IC!

Wie der Berliner Unternehmer Ralph Anderl seine Brillenmanufaktur als Gesamtkunstwerk in die Zukunft führt.

Die Brillen sind federleicht, hochqualitativ und unkonventionell. Dank der Federscharnier-Gelenke brauchen sie keine einzige Schraube, also kann auch keine locker werden oder gar rausfallen. Der Berliner Unternehmer Ralph Anderl entwickelt, produziert und verkauft weltweit erfolgreich Brillen, die man selbst reparieren oder den Bügel nach Lust und Laune einfach austauschen kann. In jede Brille ist die Telefonnummer des Chefs eingelasert, falls man mal wirklich ein Problem hat. Mit dem Gestell, versteht sich. Aber es hat niemand ein Problem, außer der eine oder andere mit dem Preis vielleicht. 

Ralph Anderl trägt Jeans und T-Shirt, Brille, einen klassischen und seinen geliebten Silberpuschelring an der linken Hand und zwei einfach schöne an der rechten und lacht mich an. Er hatte schon die erste beste Idee des Tages und kommt gerade vom Singen. Er ist 44 Jahre alt, studierter Kulturpädagoge, hat zwei Kinder und kann immer gut schlafen. Ein Mal im Jahr fastet er: „um sich wieder nackt zu machen“. 

Seine Firma ic! berlin ist ein sehr modernes Unternehmen und sehr jung im Kopf. Selbst der älteste Mitarbeiter, auch wenn er schon über 60 Jahre alt ist. Wenn der Betriebs-Chor am Montag probt, ist Ralph Anderl möglichst mit dabei. Jeder aus dem Team, 140 Mitarbeiter/-innen insgesamt, kann mitsingen, wenn sie oder er will, im doppelten Sinn. Sich einbringen, etwas kritisieren, in der Gemeinschaftsküche kochen ist erwünscht. Auch auf der Dachterrasse der Geschäftsräume in der Sonne zu sitzen, ist allen Angestellten gestattet. Bis auf wenige Zulieferungen, wie das Blech-Ausgangsmaterial für die Brillen, kommt bei ic! berlin alles aus dem eigenen Haus. Die Werbung, das Design, der Vertrieb, die Produktion für die ganze Welt. Die drei Etagen in der Backfabrik in Prenzlauer Berg sind voll mit kreativen Köpfen, freundlichen Gesichtern und geschickten Händen. 

Ralph Anderl führt das Unternehmen in seinem Sinne wie eine große lebendige Kunstinstallation, die immer schöner werden soll; und die sich selbst am Leben erhält durch den Verkauf von Brillen. Eine Kunstinstallation, die jeden Tag am Markt geprüft wird. Er will organisches Wachstum, Unabhängigkeit und eine solche Qualität, die sich aus sich selbst heraus erklärt. Es ist für ihn unglaublich spannend, zwischen Kompromisslosigkeit und Radikalität die besten Entscheidungen treffen zu müssen, sagt er. Er glaubt fest daran, dass es eines der tiefsten Bedürfnisse der Menschen ist, Ideen zu haben und diese angegangen zu wissen. „Und wenn man dann noch verinnerlicht, dass mir als Unternehmer immer, jeden Tag, der Untergang droht; ob durch höhere Gewalt oder eigene Fehler, dann weiß ich, mehr kann eigentlich nicht passieren. Wenn man das versteht, wird man wirklich tiefengelassen und kann extremen Spaß haben“, sagt er. Und den hat er. Er fliegt morgen nach Amerika und danach nach Paris. Er denkt über die Gründung einer ic! Automobil- und Flugzeug AG nach; und wie der perfekte Bundespräsident arbeiten sollte; und will erst mit 97 Jahren sterben, im Stehen, wenn es denn dann sein muss. 

Angefangen hatte alles vor fast 20 Jahren in einer Berliner Hinterhauswohnung, ohne Ahnung, mit einem genialen Produkt und der Idee, damit „Liebesbriefe“ an neun deutsche Schauspieler/-innen zu schreiben. Hinzu kamen sein Glaube an das Gelingen, Glück, frecher Mut und ein kostenloser Messestand. Aber natürlich auch Fehler und Risiken. Nicht zu vergessen der Anfangsschmerz, den wohl jeder Unternehmer einstecken und daran wachsen muss.

Heute gibt es Tochterfirmen in den USA und Japan; und den Außendienst in Westeuropa. Für den Rest der Welt bringen Vertriebspartner die Brille an die Optiker oder Mann oder Frau. In Taiwan werden die ic! berlin Brillen in einem Geschäft gleich neben Chanel verkauft. Und in Berlin kann man direkt in die Backfabrik fahren und im Werksverkauf shoppen. Unangemeldet. Anmelden muss man sich nur, wenn man die gesamte Brillenproduktion sehen möchte. Das darf jeder.

Barbara Sommerer

 

60 - Herbst 2014