Tempel der Kulturgeschichte

Am 16. Oktober 2009 wurde das Neue Museum als drittes generalsaniertes Haus der Museumsinsel wiedereröffnet. Nach siebzig Jahren sind die Sammlungen des Ägyptischen Museums und des Museums für Vor- und Frühgeschichte an ihren historischen Ort zurückgekehrt. 

Das von Friedrich August Stüler zwischen 1843 und 1855 errichtete Museum gilt als herausragendes Bauwerk des 19. Jahrhunderts und gleichzeitig als ein grandioses Beispiel moderner Restaurierung und Interpretation durch den britischen Architekten David Chipperfield. Die Anziehungskraft des für 212 Millionen Euro wiederhergestellten und eingerichteten Hauses kann sich jetzt entfalten. Die Loblieder auf Architektur und Innenausstattung, die den jahrelangen Debatten um eine angemessene Ästhetik folgten, sind vielstimmig gesungen. Es ist wohl – so mögen es Hermann Parzinger als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Michael Eissenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, empfunden haben – eine Lebenschance, solch ein Haus in Besitz zu nehmen, die Schätze endlich in ihrer Vielfalt und in einem wahrhaft weiträumigen historischen Dialog ausstellen zu können. Die Museumsinsel hat ihre fünf Prachtbauten nun wieder, und selbst wenn das gesamte Weltkulturerbe-Projekt noch weitere Baumaßnahmen und Sanierungen von beträchtlichem Ausmaß nötig macht, ist eine der wichtigsten und ob der denkmalschützerischen Ansprüche an Architektur und Innenausstattung umstrittensten Etappen abgeschlossen.
Das Museum wurde 1841 bis 1859 nach Plänen von Friedrich August Stüler errichtet, und der britische Architekt David Chipperfield hat das kriegszerstörte Haus ab 2003 restauriert. Das Neue Museum mit seinen immensen Raumkapazitäten erfasst jetzt in Anlehnung an seine frühere Bestimmtheit die Sammlung der Vor- und Frühgeschichte, die ägyptische Kunst- und Papyrussammlung, ergänzt die Antikenschätze der benachbarten Museen und führt hinein bis in das europäische Hochmittelalter. Es ist als Sammlungshaus die Verkörperung der aufklärerischen Idee, in der Anschauung archäologischer Funde sich den geistigen Reichtum und Schönheitssinn vergangener Kulturen anzueignen und daraus Herkunftsverständnis und Toleranz zu entwickeln.
Bevor man überhaupt in der Lage ist, sich den Artefakten in ihrer Originalität und gegenseitigen Bezüglichkeit zu stellen, mag man sich von der Gesamtheit gefangennehmen lassen. Allein die Farben! Sanfte Töne, die an Wüstensand, an Lehmböden, an Staub erinnern, die von Beton und Backsteinen, von Putz und Holzböden widerscheinen, geben allen Räumen ein behutsames Licht. Aus dem Hintergrund dieses harmonischen Klangs erstrahlen dann die restaurierten Tapeten, die Wandgemälde und Deckenbemalungen, Form- und Farbfragmente früherer Ausstattungswucht, als den Räumen noch bilderreigenbuntes Dekor und klangvolle Namen zugeeignet waren. Jetzt leuchtet wieder das
Blau von der aufwendig restaurierten Deckentapete des Mythologischen Saales oder scheint Blau vom noblen Kopfschmuck der Nofretete. Es fasziniert ein tiefes Grün im Römischen Saal oder umhüllt die Büste der schönen Königin als Wandfarbe in der Nordkuppel. Dann schimmert es graugrün durch die hohe gläserne Südkuppel und erstrahlt schließlich pures Gold, mal still oder hochglänzend: Ein Prunkstück der bizarren Art ist der bronzezeitliche Goldhelm, ein hoch aufragender hauchdünn getriebener Zeremonialhut aus dem 8./9. Jahrhundert vor Christus. Das fehlende Gold der Beutekunst, wie beispielsweise der Eberswalder Goldschatz, weilt noch im Puschkin-Museum in Moskau und wirft Fragen auf. Das intensive Kobalt eines beachtlichen mittelalterlichen Glasbechers, etwa 6./7. Jahrhundert, klingt über mehrere Stockwerke nach, ebenso wie das frühe Türkis der ägyptischen Gefäßglasuren. Das Neue Museum ist
eine Farbsinfonie von berauschender Schönheit. Allein das ist schon Grund genug, das Haus aufzusuchen.
Aber dann geht es natürlich um die Kostbarkeiten: Die Nofretete, die zuvor im Alten Museum eindrucksvoll in Szene gesetzt war, kann nun gefeiert werden. Die Schöne residiert hier mit einem so gebieterischen Weitblick, der vierhundert Meter reicht, um sich womöglich an der Kolossalstatue des über zwei Meter großen Sonnengottes festzuhalten.
Neben etlichen Stars der Ausstellung begegnet man schönen, rätselhaften und aufschlussreichen Funden, die vom kulturellen Gestaltungsreichtum wie überhaupt von der anthropologischen Entwicklung des Menschen künden, so etwa den nebeneinander angeordneten Frühmenschenschädeln eines Homo sapiens und eines Homo neanderthalensis. Vom Faustkeil bis zum Florentiner Renaissanceportal (Gipsabdruck), von fragilen Schriftblättern aus vorchristlicher Zeit zu unzähligen Alltagsdingen in ihrer schlichten und kostbaren Fertigung. Im Neuen Museum ist mit großer Intensität zu erleben, dass die Lust an Schönheit und Farbe, an Abbildlichkeit oder Mystifizierung zur Daseinsweise des Menschen gehört.

Anita Wünschmann
 

41 - Winter 2009/10
Stadt