Im Winter wollen alle was von Russen hören, kommentiert Wladimir Kaminer seinen aktuellen Leseplan, der von Berlin quer durch Deutschland führt. Das habe was mit dem Winter zu tun.
Die Deutschen lieben es, sich Filme über russische Landschaften anzuschauen, in denen die Kälte fast aus dem Fernseher kriecht. In eine Decke gehüllt und ein Glas Glühwein dabei. Und er geht noch weiter. Es scheine eine magische Verbindung zwischen Russen und Deutschen zu geben. Bei der deutschen Bierkultur schmelzen die Russen dahin, Moskauer Restaurants machen wahrscheinlich besseres Eisbein als Berliner. Und die Deutschen sprechen romantisch verklärt von der „Russischen Seele“, die Kaminer übringens für eine deutsche Erfindung hält. Und er hat auch zumindest einen der Gründe dafür im Blick: Ivan Rebroff alias Hans Rolf Rippert aus Spandau. Genauso – mit tiefer Stimme, Melancholie und überbordender Lebenslust – sei ein Russe. Und anders herum? Kaminer zitiert sinngemäß Lenin: „Wenn die Deutschen Revolution machen, dann kaufen sie sich erst eine Fahrkarte.“ Aber die Tatsachen liegen doch anders: „Die Deutschen sind auf die Straße gegangen und haben ihre und große Teile der Welt verändert, die Russen sind nach der Oktoberrevolution zum ersten Mal 2011 auf die Straße gegangen – seitdem ist Totenstille.“ Nein, von einer Sache weiß er noch: 1968, nach Prag, gab es eine Demo auf dem Roten Platz, Teilnehmer acht von 250 Millionen und diese acht wurden sofort verhaftet. Kaminer erzählt gern und bringt das Kleine in das Große und auch wieder zurück. Sein enormer Erfolg hat vor allem damit zu tun und nicht mit dem Winter.
Seit „Russendisko“ im Jahr 2000 erschien, veröffentlicht er jedes Jahr einen neuen Band. Dabei hat er einen sehr genauen Blick auf den Alltag, verwürfelt scheinbare Nichtigkeiten miteinander – und voilà mit ein bisschen Magie ist eine wunderbare Kurzgeschichte entstanden, die mit einer Leichtigkeit daherkommt, die nicht spüren lässt, das der Autor jeden Satz hin- und herwägt. „Mein Gesamtwerk ist eine Fortsetzungsgeschichte und diese künstlerische Form der kleinen Episoden hat etwas Lebensbejahendes“, sagt er. „Die ganze Ewigkeit an einem Tag.“ Und ehrlich gesagt, jeder Kaminer-Leser kennt dessen Familie, auch die weitverzweigte, die Nachbarn und die Freunde. „Alle liefern fleißig Geschichten“, nennt er seine schriftstellerische Quelle. Es sei sein Anliegen, die Welt in einem Moment festzuhalten, denn sie verändere sich schnell, die Grenzen werden zu Staub – was bleibt, sind die Geschichten. Er fühlt sich als Chronist. 23 Jahre hat er in der Sowjetunion gelebt, 1990 kam er in die DDR. Er machte von seinem Recht auf Reisen Gebrauch, auch um sich zu vergewissern, dass die molligen Herren in Krawatten im sowjetischen Fernsehen ihm tatsächlich propagandistischen Quatsch über die Welt erzählten. Er bekam humanitäres Asyl, wurde DDR-Bürger. Allerdings wollte er damals weiter – nach Dänemark. Aber so offen war die Welt seinerzeit noch nicht, er wurde wieder zurückgeschickt. Man vermittelte ihm, der Toningenieur war, Arbeit an einem Tanz- und Bewegungstheater, das durch ganz Europa reiste, er war für die Musik zuständig. Eindrücklich schildert er seinen einzigen szenischen Auftritt. Ein in schwarz gewandeter Teufel, der Fackeln anzuzünden hatte. „Häng dich auf oder such dir einen Job“, riefen die Leute dem Teufel zu. Ein wenig von dieser Zeit wird man auch im gerade entstehenden Buch „Das Leben ist keine Kunst“ lesen. Es sind Geschichten von Künstlern, die irgendwie selbst Schaden genommen haben oder andere Menschen irgendwie schädigten – natürlich nicht wirklich. So die Episode, als Madonna im Kaffee Burger war und der Wirt leider dieses Highlight verschlief. „Es sind die Künstler“, sagt er, „die eine neue kulturelle Identität in Europa schaffen. Es ist eine Art zweite Industrialisierung, bei der ersten gingen die Arbeiter in die Städte ans Fließband, jetzt geht es um kulturellen Aufbruch.“ Er vergleicht diese Internationalisierung auch mit einer Völkerwanderung. Alles verändert sich. „Nur meine Heimat macht mir große Sorge, die ist beleidigt wie eine Ziege, rennt in den Wald und will nicht mitmachen“, sagt Kaminer, und als Optimist fügt er hinzu: „Spätestens im Frühling ist die Ziege zurück.“ In Russland herrsche jetzt ein kompliziertes Verhältnis von Macht und Einfluss. Die Geschichte werde immer wieder umgeschrieben und Putin verwirre mit Illusionen, indem er die alte Sowjetunion heraufbeschwöre, nur ohne Kommunisten. „Eine Idee für Menschen, die damals jung waren – aber was für eine unglaubliche Zeitverschwendung im Heute“, sagt er. In Putins Vorstellung müsse man den Westen in die Knie zwingen. Das galt einmal für den Krieg, aber Geschichte sei ein Lebewesen. Es verändere sich. Er attackiert hart die Führungsriege: „Es sind alte Offiziere, die nicht qualifiziert sind für die heutige Politik. Sie haben keine Strategie für dieses große Land, das sie regieren. Und daher denken sie nur an den Selbsterhalt.“ Der politische Überbau müsse entwickelt werden, er sei für Visionen und Zukunft zuständig. Und er geht noch weiter und auch mit seinen Landsleuten ins Gericht, die sich selbst in diese Situation gebracht haben. „Irgendwie ist das mit dem Stockholm-Syndrom vergleichbar – sie entwickeln als Geiseln ein positives Verhältnis zum Entführer.“ Und weiter: „Für die Russen ist Zukunft etwas, was am Horizont auf sie zukommt und sie verstehen nicht, dass man diese Zukunft selbst gestalten muss. Die Deutschen haben sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt, haben ihre Geschichte verstanden und haben deshalb eine ruhige Hand für die Zukunft“, vergleicht er beide Staaten. „Nichts kommt von allein oder gar von Putin.“
Martina Krüger