In Berlin wird bekanntlich fortwährend gebaut, eröffnet, erweitert. Das Kulturforum mit Museen, Philharmonie und Bibliothek gehört zu den kulturellen Highlights der Stadt, auch wegen seiner prominenten Bauten, dennoch gibt der Ort als solcher auch Anlass zur Debatte um modernistische Architektur der Nachkriegszeit. David Chipperfield saniert jetzt die Neue Nationalgalerie. Damit bleibt der 1968 eröffnete berühmte gläserne Bau von Mies van der Rohe für etwa drei Jahre geschlossen. Dafür hat nach einem langen Relaunch das Kunstgewerbemuseum wieder eröffnet und zeigt neben Schätzen gehobener Alltagskultur und zeitgenössischem Design eine historische Modekollektion.
Die Debatte um den Erhalt der oft unwirtlichen architektonischen Hinterlassenschaften aus den Sechzigern bis Achtzigern ist seit wenigen Jahren in vollem Gange. Man liebt sie nicht, die Nachkriegsmoderne mit ihren rohen Beton-Klötzen, aber müssen sie deswegen alle weg? Zu dem jüngeren Erbe dieser Art gehört auch das vom Stuttgarter Architekten Rolf Gutbrod 1985 fertiggestellte Kunstgewerbemuseum, dessen Licht- und Fensterbänder kaum die Unwirtlichkeit wettmachen, die es ausstrahlt. Ein Bunker im Vergleich zur Leichtigkeit der umliegenden Bauten, der allerdings in seiner Zeit Halt geben sollte. In seinem Innern verloren sich die Kostbarkeiten der Handwerkskunst im allzu fließenden Raum, dessen beherrschendes Element die breite Freitreppe war. Das Architekturbüro Kuehn Malvezzi ist diesem Dilemma zu Leibe gerückt: Foyer und Garderobe wurden neu geordnet, das Treppenhaus klarer abgegrenzt, mit einem Raum-im-Raum-Konzept Überschaubarkeit und ein Hauch Leichtigkeit für den weitläufigen Parcours geschaffen, der von Thementiteln sehr groß, sehr laut begleitet wird. Martin Kuehn erklärt das Architekturkonzept als ein „Doppeltes Display“, was bedeuten soll, dem Ausstellungsstück innen einen neuen Raum zu geben und außen den Gutbrod-Bau zu erhalten. Das Kunstgewerbemuseum bietet auf vier Etagen einen systematischen Überblick über die Meisterleistungen europäischer Entwurfs- und Objektkunst vom Mittelalter über Renaissance, Barock und Rokoko bis hin zum Art déco. Der Welfenschatz und das Lüneburger Ratssilber gelten als die Berühmtheiten des Hauses, das zur Erziehung des guten Geschmacks bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. Zu Beginn der industriellen Massenproduktion wurde europaweit nach Bewahrung und Erneuerung von Stilgefühl und handwerklicher Fertigkeiten gesucht, und in einem überschaubareren Maßstab als etwa die opulent ausgebreitete Geschichte der Alltagskultur im Londoner Victoria and Albert Museum sind an der Spree intime Kabinette eingerichtet. Von Renaissance- und Barockschränken bis zu Bauhausklassikern und zeitgenössischem Design samt Stuhlsammlung ist hier der Wandel von Stilgefühl und Schönheitssinn erlebbar.
Und schließlich hat die 2009 angekaufte Mode-Sammlung von über eintausendfünfhundert Teilen des Schweizer Bühnen- und Kostümbildners Martin Kamer und des Luzerner Kunsthändlers Wolfgang Ruf ein repräsentatives Zuhause. Ein beträchtlicher Schatz von 660 Kleidern und 912 Accessoires ist nun mittig zwischen KaDeWe und Leipziger Platz beheimatet und gibt der Modestadt Berlin einen historischen Bezugspunkt: vom englischen Ballkleid aus der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Seidentaft aufwendig mit Quetschfalten genäht bis zum Pariser Modeschöpfer Paul Poiret, der um die Wende zum 20. Jahrhundert den Frauen die Atemfreiheit zurückgab, indem er das Korsett verbannte und eine fließende Linie mit hochgezogener Empiretaille kreierte. Ebenfalls aus Paris kommt Edward Molyneux. Er entwarf 1902 mit einem pistaziengrünen Abendkleid den Elfenlook des Jugendstils. In der Sammlung finden sich Kleider der 1970er- und 1980er-Jahre von Nina Ricci, Madame Grès und Yves Saint Laurent. Die Haute Couture war längst geboren und die Abendrobe das Lieblingsmetier der Couturiers. Gianni Versace provozierte seinerzeit mit Sicherheitsnadeln. Ein kleines Schwarzes, mit dem die Schauspielerin Liz Hurley als Partyluder avancierte. Das Museum lädt mit 130 Kostümen zum Schaufensterspaziergang durch eine dreihundertjährige Kulturgeschichte des Kleidsamen, kuratiert von Christine Waidenschläger. Man mag noch so dicht mit der Nase an die luftdichten Glaskabinen treten, wo die Kostüme über Figurinen gezogen sind. Man kann nur mit den Augen kostbaren Seidentaft, edlen Samt, Organza, Spitzen und Pailletten abtasten. Es gibt hier kein Spektakel, keine Videoinszenierung von Models auf Laufstegen, von Näherinnen bei der Arbeit, keine Interviews mit den Größen der Mode sondern eine klassisches Arrangement von Artefakten und Texten – ein Ort der Ruhe und der Begehrlichkeit, die sich allein im Schauen erfüllt. Gedimmtes Licht, um Farbe und Faser zu schützen.
Aufregung bieten die überzarten Taillen, die etwa mit einem bestickten Pariser Korsett aus 120 Fischbeinstäben herbeigezurrt wurden, man weiß ja, bis die Luft wegblieb. Mit Krinoline (den rosshaar- oder metallgestärkten Reifröcken) und Tournüren (peppige Polster) wurden in der Zeit des Historismus spielerisch Volumen moduliert. Der Tanz um das Goldene Kalb zeigt sich als jener um die Silhouette, deren Wandel als ein Produkt der Schneiderkunst und des Gesellschaftslebens erlebt wird. Mal treibt die Erfindung einer neuen Nähmaschine, mal ein Webstuhl, dann die Entwicklung von Farben oder der Ausbau der Eisenbahn, Krieg und Frieden die Mode voran. Davon erzählen etwa der streng gegürtete Damenmantel aus dem Paris der 40er-Jahre und der glanzvolle „New Look“ der Fünfziger mit Wespentaille. Accessoires wie Hüte, Handschuhe und Abendtaschen suggerieren ein Gesamtkunstwerk, in das sich frau verwandelt, wenn sie denn hochelegant erscheinen wollte. Die Modestadt Berlin hat nun einen immerwährenden Laufsteg. Man kann an Coco Chanels schlichtem Kostüm aus Wolljersey sein Gespür für Eleganz verfeinern, sich an Christóbal Balenciagas Rosa berauschen oder den Sprung in die Sechziger und hinein ins Minikleid nachvollziehen.
Anita Wünschmann
Information
Kunstgewerbemuseum am Kulturforum, Besuchereingang Matthäikirchplatz, 10785 Berlin
Zur neuen Dauerausstellung gibt es einen Katalog.