Schon die Anfahrt ist spektakulär. In einem weiten Bogen hält die gelbe U2 an diesem oberirdischen Stück auf die Hochhäuser des Potsdamer Platzes zu. Diesiges Licht strömt in die Wagen und lässt die Fahrgäste von ihren Smartphones aufschauen – Touristen ebenso wie die Berliner. Sie sehen eine Stadtlandschaft, weit und wenig strukturiert, die sich bis zum Horizont zu ziehen scheint. Überspannt von einem Himmel, der so weit ist wie nur an wenigen Orten in Berlin. Lange Zeit sah man hier Brachen und Baugruben. Nun ist der Park am Gleisdreieck fertig. Seither führt das breite, grüne Rasenband wie ein Teppichläufer die Schritte und Blicke auf den legendärsten Platz der Stadt. Dieser zeigt nach einem gründlichen Lifting nun sein neues, lebhaftes Gesicht.
Wer Berlin seit zehn oder mehr Jahren kennt, erinnert sich noch an das Durcheinander aus Bauzäunen und Umfahrungsschildern, für das dieser Platz viele Jahre stand. Wer mit der U-Bahn ankam, schien immer an der falschen Ecke ans Tageslicht zu kommen, egal, welchen Ausgang man auch nahm. Riesige Baugruben, deren Positionen sich ständig zu ändern schienen, verzerrten alle Perspektiven. Der Platz lag hinter den Bauplanen verborgen. Von den großen Visionen der Investoren – sie gaben hier den Ton an – war lange nichts anderes zu sehen als ein paar ambitionierte Hochhäuser im städtischen Niemandsland, wie etwa das 1999 fertiggestellte Klinkerhochhaus von Hans Kollhoff. Die Kritiker konnten es nicht erwarten, ihren Stab über den Platz zu brechen. Mit den Potsdamer Platz Arkaden eröffnete 1998 die erste moderne Shoppingmall nach amerikanischem Vorbild. „Kalt“, waren die Worte der Kritiker, „künstlich“, „beliebig“. Ein paar Meter weiter eröffnete die Spielbank am Marlene-Dietrich-Platz. Ansonsten lag für mehr als ein Jahrzehnt alles weit auseinander: die Läden für Pappbecherkaffee, das Geschäft für modische Bequemschuhe, der Trauringladen mit den Discountpreisen an der Stresemannstraße.
Doch wie durch einen Zaubertrick haben sich, als 2014 die letzten Zäune verschwanden, die Perspektiven in Form gezogen. Die markanten Gebäude sind an ihren Platz gerückt wie die Klötzchen in einem chaotischen Kinderzimmer, das durch den Schnips einer Fee aufgeräumt wird. Eingerahmt von Gebäuderiegeln ist der Potsdamer Platz mit dem daran anschließenden Leipziger Platz nun eine geschlossene Einheit mit einer aufregenden, inneren Spannung. An der Westseite schließt das Kulturforum der 1960er-Jahre und vor allem Scharouns Philharmonie an. Geleitet von der Alten Potsdamer Straße erstreckt sich der neue städtische Raum über das Oktogon des Leipziger Platzes und schließt im Osten mit der neu eröffneten Mall of Berlin ab.
Im Norden grenzt der Tiergarten, im Süden der urbane Park am Gleisdreieck an. Der Potsdamer Platz hat seine Ecken und Kanten – buchstäblich und im übertragenen Sinn. Scharfkantige Hochbauten wechseln mit klobigen Klötzen in postmodernem Stilgemisch, dazwischen wirken elegante Hochhäuser wie aus einer anderen Stadt abkommandiert. „Am Potsdamer Platz tut sein Hochhaus Unglaubliches“, schreibt der Chemnitzer Architekt Sven Gränitz über Helmut Jahns Turmhaus für die Bahn: „Es ignoriert den kollhoffschen Bau so beispiellos und so brillant, dass der Backsteinbau beinahe einer permanenten Peinlichkeit ausgesetzt ist. Mit seiner übersteigerten Tektonik und der bis zur Verzweiflung getriebenen Oberflächenstruktur schreit er den Sony-Tower geradezu bildhaft an.“ Das neoklassizistische Geschäftshaus am nördlichen Übergang zum Potsdamer Platz erweist sich bei näherer Betrachtung als eine mit Fassade bloß bedruckte Plane, die kommentarlos an das echte, steinerne Haus daneben grenzt. Ein winziger Spalt zwischen beiden bietet Gewissheit: Hinter der Plane liegt nichts als ein enormes Gittergerüst. Hier ist der Potsdamer Platz bis heute ein Potemkinscher Platz. Auch fehlt manchen eiligen Passanten noch immer ein sinnvoller Fußgängerübergang über die Hauptschlagader Alte Potsdamer Straße.
Doch das Weinhaus Huth, das als letztes verbliebenes Gebäude der Vorkriegszeit einst wie ein übrig gebliebener Zahn auf freiem Feld aufragte, fügt sich heute wieder harmonisch in eine Häuserreihe. Zusammen bilden diese ältesten Teile des neuen Potsdamer Platzes eine Art Altstadtkern – und haben bereits eine lebendige Patina angesetzt. Das benachbarte Grand Hyatt, skeptischen Berlinern noch vor wenigen Jahren Inbegriff des kalten Neonhotels des neuen Jahrtausends, wirkt heute geradezu gemütlich. Und auch das einst hyperavantgardistische Sony Center, das am Ende der kleinen Seitenstraße herüberblitzt, scheint schon immer hier gestanden zu haben.
Dissonanzen sind am Potsdamer Platz wesentlich häufiger als Harmonien. Und das passt. Berlin ist schließlich eine Stadt, die Angriffsfläche bietet, und an der jeder immer etwas zu meckern findet. Das ist an diesem Platz nicht anders. Und gerade an den ersten Alterungseffekten zeigt sich, wie sehr sich der Geist von Berlin hier verwirklicht: Zukunft war immer schon gestern, das, was kommt, hat noch keinen Namen. In den letzten Jahren hat sich der Potsdamer Platz sortiert wie eine epische Geschichte, deren Pointe man erst am Schluss versteht. Nun ergibt dieses Zentrum des neuen Berlin einen baulichen Sinn, als sei es schon immer da gewesen. Das Warten hat sich gelohnt. Die Geschichte geht weiter.
Susann Sitzler
Information
Brückenfahrten
Weitläufig wird die Gegend um den Potsdamer Platz von Spree und Landwehrkanal begrenzt. Berlins Wasserwege bieten die einzigartige Möglichkeit, die Innenstadt mit ihren Sehenswürdigkeiten vom Schiff aus zu betrachten. Mit einer Strecke von rund 23 Kilometer führt die ca. 3,5-stündige Rundfahrt vorbei an den historischen und modernen Bauten der Metropole Berlin.
Nächste Abfahrt: Potsdamer Brücke (Potsdamer Straße/Ecke Schöneberger Ufer), Abfahrt täglich 11:05 und 15:05 mit Ende jeweils an der Kottbusser Brücke. Die Schiffe der Reederei Riedel fahren bis 4. Oktober
Kultureinrichtungen
Kulturforum am Potsdamer Platz, bestehend aus einem Museumskomplex, der Philharmonie und der Staatsbibliothek, Matthäikirchplatz 6 I Theater am Potsdamer Platz und Sternberg-Theater in der Spielbank, Marlene-Dietrich-Platz I Filmhaus mit Museum für Film und Fernsehen und den beiden Kinos Arsenal, Potsdamer Straße 2 I CinemaxX und CineStar mit Imax, Potsdamer Str. 4 u. 5 I Dali-Museum mit über 400 Exponaten aus privaten Sammlungen, Leipziger Platz 7