Grandezza auf Schienen

Lange vor S- und U-Bahn war in Berlin die Straßenbahn das ultimative Verkehrsmittel. Im Juni feierte sie ihr hundertfünfzigjähriges Bestehen. Am 22. Juni 1865 wurden am Brandenburger Tor zwei Pferde vor eine zweistöckige Kutsche gespannt, und auf Schienen zogen sie diesen Pferdebahnwagen No.1, wie die Kutsche mit Gardinen und Polstersitzen offiziell hieß, bis zum Schloss Charlottenburg. Hinter dem Schloss befand sich der Betriebshof mit Pferdeställen, Dunghaufen und Wasserpumpe für die Pferde, die dort umgespannt wurden, und die Fahrt ging wieder zurück zum Brandenburger Tor. Im August verlängerte die Berliner Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft das Gleis dann bis zur damaligen Singakademie. Für die gesamte Strecke benötigten die Pferde eine halbe Stunde und die einfache Fahrt kostete 30 Pfennige oder zweieinhalb Silbergroschen. 

Mit dieser ersten Pferdestraßenbahn Deutschlands begann die Geschichte der „Tram“, die zweifellos eine Erfolgsgeschichte ist, denn die Berliner Straßenbahn war lange Zeit wichtigstes Verkehrsmittel in der Stadt und ist noch immer unverzichtbar, obwohl sie seit den 1960er-Jahren nur noch im Ostteil der Stadt wirkliche Bedeutung hat. Doch das dort umfängliche Liniennetz, das bis in die östlichen Außenbezirke reicht, streckt seine Fühler seit dem Fall der Berliner Mauer auch wieder Richtung Westen aus. Als umweltfreundliches Verkehrsmittel wird es zwar nun nicht im Gegenzug die Busse im Westteil verdrängen, doch die Renaissance der Straßenbahn ist sicher noch längst nicht abgeschlossen.

Ihre Hochzeit hatte sie freilich vor und zwischen den Weltkriegen. Allerdings bedurfte es dazu erst eines technischen Entwicklungsschritts: Werner von Siemens rüstete einen Wagen mit Elektromotor aus und startete im Mai 1881 in Groß-Lichterfelde mit der ersten elektrisch betriebenen Straßenbahn der Welt das Zeitalter der „Elektrischen“. Den Strom erhielt die Bahn über die Gleise, was aber zu gefährlich war, deshalb dominierten zunächst noch die sich ausbreitenden Pferdestraßenbahnen. Erst mit den Oberleitungen begann sich die Elektrifizierung aller Pferdebahnlinien durchzusetzen; die erste, die sogenannte Siemensbahn, verkehrte ab September 1895 zwischen Gesundbrunnen und Pankow, während das Pferdebahnnetz mit fünfundfünfzig Linien seine größte Ausdehnung hatte. Aber bereits drei Jahre später verschwanden die Pferde aus dem Berliner Stadtbild und 1907 stellten auch alle Pferdestraßenbahnen im Umland auf elektrischen Strom um. Berlin war im Begriff, innerhalb von kürzester Zeit zur modernen Großstadt zu werden und die Stadtväter versuchten dem mit Hoch-, Untergrund- und Ringbahn sowie einem Netz von Straßenbahnenlinien, das auch die Vorstädte mit einbezog, Rechnung zu tragen. Als Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zur drittgrößten Stadt der Welt wurde, waren allerdings die voneinander unabhängigen Betreibergesellschaften gezwungen, sich zusammenzuschließen, denn unterschiedliche Fahrpläne und Fahrpreise wirkten sich erschwerend auf die Mobilität der Berliner aus. So kam es zum Zusammenschluss der Berliner Straßenbahn-Gesellschaft, der Hochbahngesellschaft und der Allgemeinen Berliner Omnibus AG zur Berliner Verkehrs-Aktien-Gesellschaft, kurz BVG, das damals größte Nahverkehrsunternehmen der Welt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte dieses großzügig ausgebaute Verkehrsnetz nicht mehr. Es fuhren dann zwar einige Linien zwischen Ost und West wieder, beispielsweise die Linie 4 über die Oberbaumbrücke nach Kreuzberg, doch 1953 kam es zur Trennung des Straßenbahnnetzes. Gleichzeitig beschloss der Westberliner Senat, die Straßenbahn in seinem Stadtgebiet als Auslaufmodell zu betrachten. Mit dem Rückbau wurde ab 1961 begonnen. 

Daraufhin verschwand die Straßenbahn langsam auch aus dem öffentlichen Bewusstsein der Westberliner zugunsten von U-Bahn, Bus und individuellem Autoverkehr. In Ostberlin wurden zwar ebenso einige innerstädtische Linien zurückgebaut, doch in Richtung der neuen östlichen Stadtbezirke entstanden neue Linien, so dass die Straßenbahn im Ostteil der Stadt unverzichtbares Verkehrsmittel im Öffentlichen Nahverkehr blieb. Was dort mit Tatra-Wagen aus Prag als Renaissance der Straßenbahn begann, setzte sich nach dem Fall der Mauer im wiedervereinigten Berlin fort: Seit Mitte der 1990er-Jahre fährt die Tram auch wieder im Wedding und seit 1998 über den Alexanderplatz.

Linienverlängerungen, beispielsweise zum Hauptbahnhof, und „angedachte“ Linien auf der Leipziger Straße oder über die Oberbaumbrücke geben Anlass, auf weiteren Ausbau zu hoffen, denn als umweltfreundliches Verkehrsmittel hat die Straßenbahn längst wieder an Attraktivität gewonnen. Von den geringeren Kosten gegenüber einem aufwendigen und teuren U-Bahnbau beispielsweise ganz zu schweigen. Die Straßenbahn sei der Fußgänger unter den Schienenfahrzeugen, ist zu lesen. Tatsächlich vermag sie auch zu entschleunigen.

Doch eines wird sie mit Sicherheit noch lange bleiben: die Bahn, die Berlin bewegt. 

Reinhard Wahren

 

Neuerscheinung

Harf Zimmermann/Hans Georg Hiller von Gaertringen:
Die Bahn, die Berlin bewegt – 150 Jahre Straßenbahn.
Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2015
ISBN 978-3-89479-945-8

 

 

 

 

 

63 - Sommer 2015
Stadt