Krieg der Bauten

Mit der Ausstellung „Radikal Modern“ erinnert die Berlinische Galerie an die Bautätigkeit der 1960er-Jahre in Ost- und Westberlin, die die Stadt bis heute prägt.

Abreißen oder sanieren? Das ist die Frage, die wohl immer beantwortet werden muss, wenn Architekten, Denkmalpfleger und Stadtplaner über das Schicksal eines Gebäudes entscheiden müssen. Wenn zu oft die Abrissbirne bevorzugt wird, werden die Nachgeborenen nur noch „Bilder“ aus vergangenen Epochen in Museen und Ausstellungen zu sehen bekommen: Ein „Zeugniswert der Substanz“ ist nicht mehr nachzuvollziehen. 

Beim Rundgang durch die Ausstellung „Radikal Modern – Planen und Bauen in Berlin der 1960er-Jahre“ drängt sich aber nicht nur dieser Gedanke auf. Die Gegenüberstellung der Architektur-Highlights aus Ost und West jenes Jahrzehnts der Nachkriegsmoderne vermittelt den Eindruck, als gäbe es kaum Unterschiede: Hier die „Ostmoderne am Alex“, da die „Westmoderne am Zoo“, ähnlicher Baustil ist unverkennbar. Dabei standen sich die architektonischen Konzepte für eine Stadterneuerung so diametral gegenüber wie die beiden Weltbilder. Ausgehend von der Bauausstellung 1957 im Hansaviertel sollte die „Stadt von morgen“ im Westen aus modernen Stadtvierteln bestehen, mit lockerer Bauweise, Innenhöfen, Balkonen und offenen Küchen, eine Art Wiederaufnahme der Moderne. Dagegen setzte man im Osten die Vorgaben aus Moskau mit der Stalinallee um: Neoklassizismus statt 1920er-Jahre-Architektur. Nach dem Mauerbau änderte sich dann allerdings sowohl die politische wie auch die stadtplanerische Situation. Stadtzentren mussten geschaffen werden und die Architektur wurde zum Instrument im Kalten Krieg. Im Westen entstand mit dem Zentrum am Zoo und dem Breitscheidplatz die neue Westberliner Mitte, 1965 flankiert vom Europa-Center, der ersten Shopping-Mall Deutschlands. Damit wurde nicht nur die Moderne fortgeführt, zugleich hatte man mit dem Europa-Center eine für die Westberliner identitätsstiftende Architekturikone geschaffen. Gleichwohl stehen auch die Philharmonie von 1963, als Auftakt für das Kulturforum, die Neue Nationalgalerie von 1968 und der neue Flughafen Tegel für ein Bekenntnis zur internationalen Moderne.  

Im Osten war der „Zuckerbäckerstil“ der Stalinallee aus Kostengründen nicht fortsetzbar, sodass auch dort westlicher Baustil ins Blickfeld der Architekten geriet. In schneller Folge entstanden exemplarische Bauten, wie die Kinos Kosmos und International und das Café Moskau. Anfang der 1960er-Jahre begann auch der Ausbau des Alexanderplatzes, zunächst mit dem Haus des Lehrers und der Kongresshalle 1964. Nachdem allerdings das Europa-Center als „bedeutendstes kommerzielles Neubauprojekt der Nachkriegszeit auf unserem Kontinent“ in der Presse gefeiert worden war, sollte ein Gegenentwurf die Überlegenheit des Sozialismus symbolisieren. So entschied man kurzerhand, den Fernsehturm nicht wie ursprünglich geplant auf den Müggelbergen zu errichten, sondern auf dem Alexanderplatz: das wohl spektakulärste Beispiel für den „Krieg der Bauten“.

Die Ausstellung beschränkt sich allerdings nicht auf die Gegenüberstellung von für dieses Jahrzehnt herausragende Bauten, sie zeigt auch das Dilemma, in dem die Stadtentwickler in jener Zeit steckten. Einerseits entwickelten sie visionäre Zukunftsprojekte, im Osten auch um der Staatsführung zu gefallen, andererseits zwangen Wohnungsknappheit, teure Altbausanierung und Abrisswut dazu, neue Stadtsiedlungen zu erschließen: im Westen das Märkische Viertel und die Siedlung Britz-Buckow-Rudow (ab 1972 Gropiusstadt), im Osten zunächst einzelne Hochhausprojekte wie das Stufenhochhaus am ehemaligen Leninplatz, dann aber in den 1970er-Jahren großflächig die Plattenbausiedlung in Marzahn. 

Der mehr oder weniger beschworene Aufbruch in eine moderne Zukunft gebar zu jener Zeit aber noch eine andere Verheißung: die autogerechte Stadt. So begann in den 1960er-Jahren der Umbau der Stadtinfrastruktur zugunsten des Autoverkehrs, freilich im Westen durch den Stadtautobahnbau stärker als im Osten. Das brachte einschneidende Veränderungen mit sich, die das Stadtbild bis heute prägen. 

Sicher verfolgten Planer und Architekten auf beiden Seiten das Ziel, abwechslungsreiche Gebäudevarianten zu entwickeln und im Sinne der zeitgenössischen internationalen Moderne neue zukunftsweisende Lebensräume zu schaffen, doch gelang dies nur in wenigen Fällen und visionäre Entwürfe blieben unverwirklicht, wie die Ausstellung offenbart. Politischer Einfluss und enge industrielle Vorgaben verhinderten in dieser Zeit einen wirklich radikalen Aufbruch. Im Westteil regte sich bereits in den 1960er-Jahren Widerstand gegen den Abbruch innerstädtischer Wohngebiete und Bürgerproteste verhinderten oftmals einen unsinnigen Planungsvorschlag. Im Ostteil der Stadt, der zur Hauptstadt der DDR ausgebaut wurde, mussten sich Architekten stets des Wohlwollens der Staatsideologen versichern. Deren Willkür machte auch vor erhaltenswerten Architekturikonen wie der Schinkel‘schen Bauakademie nicht halt. Ihr Abriss 1962 zugunsten einer Neuplanung des damaligen Marx-Engels-Platzes zeigt auch die ganze Fragwürdigkeit der Stadtplanung jener Jahre, die sich von historischen Formen frei machen wollte, aber politisches Gegeneinander, wirtschaftliche Zwänge, Technikgläubigkeit und bedingungsloser Zukunftsoptimismus einen planerisch großen Wurf für die geteilte Stadt zwangsläufig verhindern mussten. Dies macht die Ausstellung, gegliedert in sechs thematische Bereiche, mit über zweihundertfünfzig Arbeiten von mehr als achtzig Architekten, Planungsbüros, Fotografen, Künstlern und Filmemachern am Ende mehr als deutlich.

Reinhard Wahren

 

Information

Radikal Modern – Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre
Bis 26. Oktober 2015
Berlinische Galerie
Alte Jakobstraße 124–128
10969 Berlin

 

63 - Sommer 2015