Der Trend zum Streetfood verändert die kulinarische Szene in Berlin – statt Döner und Currywurst stärkt man sich nun mit Pulled Pork, veganen Pies und Spätzle to go.
Die mütterliche Spanierin mit der praktischen Freizeitjacke und dem Selfie-Stick irrt etwas verloren durch die Markthalle Neun in Kreuzberg. Eigentlich wollte sie hier nur kurz ein paar nette Bilder fürs Reisealbum machen. Aber nun hat sie ihre Begleiterin verloren. Und auch der Markt ist ganz anders als erwartet. Keine hochgetürmten Gemüseberge und üppigen Käsetheken. Sondern eine Überfülle an Buden mit unbekannten Speisen: vegane Pies und Reisnudelrollen, brutzelndes Blattgemüse und rubinrote Suppen. Zwischen den Ständen schieben sich kauende Menschen aneinander vorbei, junge Männer mit Bärten und Wollmützen, Frauen mit riesigen Brillen. Alles riecht aufregend fremd. In der Mitte des Getümmels haben zwei Studentinnen Kunststoffbecher mit selbst gemachtem Eistee aufgebaut. Unglaubliche 3,50 Euro nehmen sie für eine Portion. Die Leute scheint das nicht abzuschrecken. Ein Becher nach dem anderen verschwindet, die Frauen kommen kaum nach mit dem Auffüllen. Kurzentschlossen schiebt auch die Spanierin ihre Münzen über den Tresen.
Ganz sicher der teuerste Eistee, den sie jemals getrunken hat. Aber er schmeckt wunderbar, frische Minze und etwas Ingwer glaubt sie zu erkennen. Zu gerne hätte sie sich hier zusammen mit ihrer Freundin fotografiert. Aber wo steckt die bloß?
Streetfood aus mobilen Verkaufswagen, sogenannten „Food Trucks“, sind der Trend der Stunde in Berlin. Entfernt erinnern die Wagen an den Anhänger, aus dem einst die legendären drei „Damen vom Grill“ in der gleichnamigen Fernsehserie Bockwürste durch die Verkaufsluke reichten und damit für Jahrzehnte das Bild der Berliner Imbisskultur prägten. Doch das ist auch schon die ganze Gemeinsamkeit mit der modernen Streetfood-Szene. Begonnen hat der Trend vor etwa zwei Jahren, als eine amerikanische Foodbloggerin in Treptow den „Bite Club“ eröffnete: Eine Ansammlung von mobilen Ess-Ständen, Bierbänken und einem DJ, der die Umgebung mit entspannter Musik beschallt. Damit sollte die Lockerheit amerikanischer Spezialitätenfestivals mit der Vitalität asiatischer Nachtmärkte kombiniert werden. Ganz so dynamisch ist es dann zwar doch nicht, wenn ein Haufen Hipster sich an Verkaufswagen nach Essen anstellt, um es danach gemütlich fläzend zu verdrücken. Aber dass der Fokus auf dem gemeinsamen Genuss liegt – und nicht auf der raschen Sättigung – ist neu in dieser schnellen Stadt. Jahrzehntelang bedeutete „unterwegs essen“ in Berlin nämlich kaum mehr, als sich auf dem Weg von der Arbeit oder ins Nachtleben irgendwo rasch einen fettigen Döner oder eine lauwarme Currywurst reinzustopfen – Hauptsache satt.
Auf den Bite Club folgten der „Village Market“ in der „Neuen Heimat“ in Friedrichshain und seit einiger Zeit auch der „Streetfood auf Achse Sonntagsmarkt“ auf dem Gelände der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg. Hier übersteigt der Anteil junger Familien noch deutlich den der Lifestyleblogger. Aber auch hier ist die Atmosphäre fröhlich und die Auswahl immens. Sudanesische Lammkeule vom Steingrill? Crêpes? Weißwurst-Hot Dog? Oder Schweizer Raclette? „Gute Wahl!“ lobt der Grillmeister eines stattlichen Wagens, als eine Kundin „Pulled Pork“ mit hausgemachtem Coleslaw bestellt. Pulled Pork ist der Renner des Streetfood. Mariniertes Schwein – Schulter oder Nacken – wird in einem speziellen Räuchergrill stundenlang bei niedriger Temperatur ge-gart. Danach ist es so zart, dass es fast in Stücke zerfällt und auf Brötchenhälften getürmt werden kann. Der texanische „Pit Master“ Adam Ramirez, Hobbykoch und Wahlberliner, bietet seit fünf Jahren mit seinem speziell angefertigten Garofen abseits der Foodmärkte sogar eine Originalvariante des texanischen BBQ an: auf gescheitetem Eichenholz gegart. Er ist einer der wenigen Anbieter, die auch im alten Westen präsent sind. Wie die meisten Streetfood-Köche ist auch Ramirez kein gelernter Koch. Streetfood ist ein Trend leidenschaftlicher Laien, die ihre Freude am Kochen und Backen – und manchmal das Beherrschen einer exotischen Landesküche – lieber im Nebenerwerb pflegen. Darum erinnert die Stimmung vieler Streetfood-Anlässe auch eher an einen Flohmarkt als an ein kommerzielles Festival.
In der Kulturbrauerei stellt ein Hobbykoch gerade eine Portion frisch gebrutzelter Süßkartoffelpommes vor seinen Kollegen vom Fleischbällchenstand nebenan. „Genau das, was ich jetzt brauche!“, strahlt der, als die knusprigen Fritten noch mit einem Klacks veganer Mayonnaise dekoriert werden. „Was kriegst du dafür?“ Der andere winkt ab. „Nichts. Vielleicht ein paar Fleischbällchen bei der nächsten Runde.“ – „Aber klar“, sagt der Glückliche, „wann immer du willst.“ Nicht alles, was durch die Ausgabeklappe eines Berliner Food Trucks gereicht wird, ist nachhaltig, vegan und ökologisch korrekt. Aber fast immer wird es betont liebevoll serviert. Bei Streetfood geht es neben Genuss auch um Gesinnung. Dass man beim Kosten und Testen auch der nachhaltigsten Köstlichkeit und des glücklichsten Schweineschnitzels Unmengen von Pappschalen und Wegwerfholzgabeln hinterlässt, wird nur von Spielverderbern bemäkelt.
In der Markthalle Neun klappt die mütterliche Spanierin endlich ihren Selfie-Stick zusammen. Im Getümmel ist ihre Freundin wieder aufgetaucht – und schwärmt von einem Brötchen aus gekochtem Weizenteig, gefüllt mit Glasnudeln und Sellerie, das sie gerade an einem asiatischen Stand verkostet hat. „Ich habe keine Ahnung, was das war, aber es war köstlich. Und es kostete nur 2 Euro!“ Die meisten Streetfood-Portionen sind klein genug, um Platz für Neugier zu lassen. Zusammen wollen die beiden rüstigen Damen jetzt nämlich auch noch eine echt deutsche Spezialität probieren. „Heißer Hobel“ steht an dem stromlinienförmig altmodischen Campingwagen am Eingang der Markthalle. Darin hantiert ein schwungvolles Paar. Mit Schmackes füllt der Mann eine Kelle dickflüssigen Spätzleteigs in die Reibe. Dass er das nicht zum ersten Mal macht, zeigt die Routine, mit der er etwas über den Rand getropften Teig wieder einfängt. Konzentriert lässt er dicke Teigknäuel in einen Topf mit siedendem Wasser plumpsen. „Ist gleich so weit“, zwinkert er den beiden Kundinnen zu. Schon jetzt ist er sich seiner Sache sicher: Spätestens nach dieser Portion „Spätzle to go“ werden auch sie sich in Berlin und das neue Essen dieser Stadt verliebt haben.
Susann Sitzler
Information
„Street Food Thursday“ in der Markthalle Neun,
Eisenbahnstraße 43/43,
immer donnerstags 17 bis 22 Uhr.
www.markthalleneun.de
„Village Market“ in der „Neuen Heimat“,
Revaler Straße 99,
immer sonntags ab 12 Uhr.
www.neueheimat.de
„Bite Club“ beim Badeschiff,
Eichenstraße 4,
jeden zweiten Freitag 16 Uhr bis Mitternacht.
www.biteclub.de
„Streetfood auf Achse“ Sonntagsmarkt in der Kulturbrauerei,
Schönhauser Allee 36–39,
immer sonntags 11 bis 19 Uhr.
www.streetfoodaufachse.de
Adam Ramirez alias „The Pit Berlin“,
an wechselnden Standorten,
Details unter www.thepitberlin.com
Und noch ein Klassiker:
Der wilde Hausmacher-Thai-Food-Markt in Wilmersdorf,
immer samstags und sonntags ab 10 Uhr
im Preußenpark am Fehrbelliner Platz.