Sie steht für ungewöhnliche Expressivität und Radikalität im Ausdruckstanz, aber auch exemplarisch für das hedonistische Lebensgefühl in den Zwanzigerjahren, das sie am Ende zerstörte: Anita Berber.
Wenn auch im heutigen Berlin mitunter die Zwanzigerjahre beschworen oder gar Parallelen bemüht werden, so bietet unsere Zeit wenig Vergleichbares. Denn das Berlin der sogenannten Goldenen Zwanziger erzeugte zwar einerseits ein Lebensgefühl, das dem Tempo der wachsenden Großstadt entsprang, andererseits aber war es zum Zentrum der Avantgarde auf allen Gebieten der Kunst avanciert. Eine unbändige Energie und Kreativität erfasste die Künstler in der Stadt und diejenigen, die es nach dem Ersten Weltkrieg in die alles verheißende neue Kunst- und Amüsiermetropole Berlin gezogen hatte. So, neben vielen Literaten, Malern und Schauspielern, auch junge Tänzerinnen wie Josephine Baker oder Anita Berber, die in den einschlägigen Theatern, Varietés und Tanzlokalen mit spektakulären Choreografien für Aufsehen sorgten. Während Josephine Baker, das erste schwarze Sexsymbol, noch heute in unserem kollektiven Bewusstsein präsent ist und als die „Mutter aller Tänzerinnen“ betitelt wird, muss der Name Anita Berber erst nachgeschlagen werden. Dabei war sie es, die als erste Tänzerin den Exhibitionismus des Tingeltangels aufbrach, und den Ausdruckstanz, wenn es ihn bis dahin überhaupt gegeben hat, in radikaler Weise geradezu revolutionierte. Für die damaligen Besucher des „Wintergartens“, „Wiener Apollo-Theaters“ oder „Metropol-Varietés“, wo sie ab 1920 auftrat, war sie allerdings in erster Linie die angesagte Nackttänzerin. Ihre Choreographien faszinierten und erregten die Zuschauer derart, dass sie schnell in aller Munde war und zu einer Art Symbolfigur wurde. Für eine Zeit, in der die Krisen der Weimarer Republik ein hedonistisches Lebensgefühl aufkommen ließen und der „Tanz auf dem Vulkan“ Zügellosigkeit und Vergnügungssucht gebar. Im Tanz der Berber schien dies den adäquaten künstlerischen Ausdruck gefunden zu haben: betörend-zügellos, lasziv-erotisch, bis hin zur hemmungslosen Ekstase. Das faszinierte auch Künstler wie Otto Dix, der Anita Berber 1925 porträtierte. Zu diesem Zeitpunkt war die einst schöne Frau mit knabenhaft-schlankem Körper allerdings bereits äußerlich durch Alkohol, Drogen und ein ungezügeltes Liebesleben gezeichnet und ihr Gesicht zur Maske erstarrt. Unter anderen hatte sie der Tänzer, Choreograph und Dichter Sebastian Droste, mit dem sie ab 1920 eine Zeit lang auftrat, auf einen unheilvollen Weg geführt. Drogen bestimmten ihr Leben und ihre Auftritte von da an mit.
Das hielt indes kaum einen Veranstalter davon ab, sie zu engagieren. Denn die verrucht-berüchtigte Nackttänzerin war sicherer Garant für ausverkaufte Amüsierclubs, Kabaretts, Theater und Vergnügungsetablissements jeglicher Art, nicht nur in Berlin. Auch die Filmindustrie entdeckte früh das Potenzial der außergewöhnlichen Tänzerin und machte sie zum Stummfilmstar. Sie spielte und tanzte in zahlreichen Filmen, wie dem „Dreimäderlhaus“, „Die Prostitution“ oder „Das Tagebuch einer Verlorenen“, ebenso in Fritz Langs „Dr. Mabuse, der Spieler“. Auf Dauer hielt ihr ausschweifend-freizügiger, in jeder Hinsicht grenzüberschreitender und extravaganter Lebensstil mit ihrem künstlerischen Anspruch, ihren radikalen Choreographien, ihrem Spiel mit der Erotik nicht Schritt. An Tuberkulose erkrankt, brach sie auf einer Tournee zusammen und wurde zurück nach Berlin gebracht. Am 10. November 1928 starb sie im Bethanien-Krankenhaus.
Mit ihrer Familie 1914 nach Berlin gekommen, war das Leben dieser hoch talentierten Tänzerin von kurzer Dauer. Dass sie als „Stil-Ikone eine ganze Ära inspirierte“ lässt sich heute leicht behaupten, marginal wiederentdeckt wurde sie freilich erst in den 1980er-Jahren. Zu lange hatte ein Zerrbild dieser unkonventionellen Künstlerin Bestand. Autor und Kenner Lothar Fischer gehört zu denen, die die Bedeutung Anita Berbers als Künstlerin erkannt haben, mit dem Anspruch, sie angemessen zu würdigen: „Mehr als 85 Jahre nach ihrem Tod erregt diese Frau immer noch viele Gemüter. Anita Berber war mehr als nur eine zeittypische Figur. Sie war eine Rebellin, die den Mut hatte, Tänze nach der Musik von Beethoven, Chopin, Liszt und Brahms mit einer seriösen Choreographie in der Unterwelt des Tanzes aufzuführen.“
Reinhard Wahren
Information
Lothar Fischer: „Anita Berber – Ein getanztes Leben“.
Hendrik Bäßler Verlag, Berlin 2014.
ISBN 978-3-930388-85-1