Dass Berlin dazu verdammt ist, immerfort zu werden und niemals zu sein, wusste schon im Jahr 1910 der Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler. Ein oft zitierter Satz, der noch heute gilt. Umso mehr sind Menschen gefragt, die vor oder hinter den Kulissen etwas bewegen und die Stadt ein Stück voranbringen. Wir stellen sie in jeder Ausgabe vor, die Berlin-Macher. Diesmal Neil MacGregor.
Der Mann ist nicht zu beneiden. Die Erwartungen an Neil MacGregor, der vor ein paar Tagen seinen neuen Job als Leiter der Gründungsintendanz des Humboldt-Forums in Berlin angetreten hat, sind so gewaltig, dass jedem normalen Menschen angst und bange würde. Doch wenn einer die Aufgabe bewältigen kann, Struktur in die laut FAZ „größte Mehrzweckhalle der Republik“ zu bekommen, dann ist es sicher dieser smarte Schotte.
Geboren 1946 in Glasgow als Nachfahre des „räuberischen Gesindels MacGregor“, so Theodor Fontane im O-Ton, studiert er Französisch und Deutsch in Oxford, Philosophie in Paris, Rechtswissenschaften in Edinburgh und Kunstgeschichte in London. Bereits 1987 übernimmt er die Leitung der National Gallery in London. 2002 wird er dort Direktor des Britischen Museums und macht das Haus mit aktuell 6,7 Millionen Besuchern im Jahr zu der meist besuchten Einrichtung Großbritanniens.
„Der Zweck des Britischen Museums ist es immer gewesen, den Besuchern die Möglichkeit anzubieten, die Welt zu verstehen“, fasst MacGregor seine Philosophie zusammen. Im Mittelpunkt seines immer angestrebten interkulturellen Dialogs und damit seiner Arbeit steht stets das Objekt. Sein Sachbuch über „Die Geschichte der Welt in 100 Objekten“ wird zum weltweiten Bestseller. Mit der viel beachteten Ausstellung „Germany – Memories of a Nation“, in der er anhand von 200 Objekten seinen Landsleuten die deutsche Seele nahegebracht und sie „entziffert“ hat, legt er nach, auch literarisch. Das Buch in deutscher Sprache ist soeben erschienen und verspricht ebenfalls eine Erfolgsstory zu werden.
Die Deutsche Nationalstiftung sieht in der Ausstellung „eine grandiose Schau, die von überraschender Sympathie zeugt und eine geistreiche Skizze Deutschlands darstellt“ und verleiht ihm dafür den Deutschen Nationalpreis 2015. Dass MacGregor zu dem Preis, den er am 16. Juni an seinem 69. Geburtstag verliehen bekommt, erklärt, er habe „nie in seinem Leben ein besseres, größeres Geburtstagsgeschenk bekommen“, sagt viel über den Mann aus, der das gesamte Preisgeld in Höhe von 50 000 Euro dem Britischen Museum überlässt.
Mit seinen Auszeichnungen kann der „Weltenkenner“ mittlerweile eine eigene kleine Ausstellung bestücken. Von der Queen erhält er den „Order of Merit“. 2008 wählt ihn die „Times“ zum „Briten des Jahres“. 2010 erhält er den erstmals verliehenen Internationalen Folkwang-Preis vom Museumsverein des Museums Folkwang in Essen. Im Mai 2015 verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung dem „polyglotten Europäer und überzeugten Kosmopoliten“ den Friedrich-Gundolf-Preis. Zuletzt wird er vom Goethe-Institut mit der Goethe-Medaille geehrt.
Dass MacGregor Museum kann, hat er demnach bewiesen und ist bekannt. Jetzt muss er nur noch das Humboldt-Forum auf Kurs bringen. Und wieder werden es die Objekte sein, mit denen er die Welt erklären will: „Das Humboldt-Forum ist ein großes Objekt, das viele Geschichten erzählt. Schon das Gebäude selbst ist das Symbol einer gemeinsamen Vergangenheit, die vor 70 Jahren abgeschnitten wurde. Es soll damals und heute neu verbinden“, sagt der Museumsmann und fährt wenig später fort: „Das Humboldt-Forum soll mit sorgfältig ausgewählten Arrangements von Objekten aus den großen Berliner Sammlungen Geschichten der Welt erzählen. Es soll eine Ressource des Weltbürgers werden, denn die Idee der ‚Weltkultur‘ ist in Berlin geboren.“
Und offenbar ist es Johann Wolfgang von Goethe höchstselbst, der den Deutschland-Liebhaber MacGregor bei seiner Mammut-Aufgabe inspiriert: „Er wusste in allen Traditionen – englisch, persisch, griechisch, indisch – Einsicht und Weisheit zu schöpfen. In seinem Haus am Weimarer Frauenplan wurden Pflanzen und Mineralien, Kunstwerke und Gipsabgüsse aus allen Ländern gesammelt. Die Welt unter einem Dach, auf dass sie studiert werde und erfasst. Und gerade diese intellektuelle Weltoffenheit erlaubte ihm, die Personifikation des höchsten deutschen Geistes zu sein. Nichts war ihm fremd:
Herrlich ist der Orient
Übers Mittelmeer gedrungen;
Nur wer Hafis liebt und kennt,
Weiß, was Calderón gesungen.
Europa kann zur Selbstkenntnis kommen nur, wenn es das Außereuropäische studiert und sich zu eigen macht. Für ein Europa, in dem Fremdenhass und Nationalismus wieder zu großen gesellschaftlichen Gefahren geworden sind, bleibt Goethe für uns alle musterhaft und nötig.“
MacGregors Anspruch für das Humboldtforum ist groß und aktuell zugleich. Und seine Vision nimmt langsam Konturen an. „Als Theatrum Mundi, Theater der Welt, soll die ganze Menschheit dort als Schauspieler, aber auch als Dichter auftreten. Es geht tatsächlich, in den berühmten Worten von Prosperos Tochter Miranda (Anm. d. Red.: in Der Sturm von Shakespeare), um ‚A brave new world‘. Hoffentlich werden wir es vermögen, diese Zaubervision zu verwirklichen.“
Derzeit zweifelt wohl niemand daran, zumal der Museumsmann schon eine erste Liebeserklärung an die Stadt abgegeben hat: „Für uns, für alle Museumsleute ist die Stadt Berlin mit ihren Sammlungen und ihren Universitäten ganz einfach unwiderstehlich.“ Und weiter: „Es gibt ja in der ganzen Welt vielleicht nur fünf Sammlungen, wo man die ganze Geschichte der Menschheit erforschen und erzählen kann: Petersburg, New York, Paris, London und Berlin. Aber nur in Berlin und nur im Schloss im Humboldtforum gibt es jetzt die Gelegenheit, diese Geschichte neu zu erzählen und neu zu erforschen. Hier sollen die Objekte, die aus aller Welt kommen, einer Besuchergruppe, die aus aller Welt stammt, ausgestellt werden, und das mit Hilfe internationaler Kollegen.“
Konsens ist demnach Triumph. Aber MacGregor kann offensichtlich auch anders. Dabei darf man sich auf eine Auseinandersetzung in Berlin schon jetzt freuen. Denn, so ist zu hören, der renommierte Museumsexperte soll eine Berufung an das Metropolitan Museum in New York angeblich auch deshalb abgelehnt haben, weil die Amerikaner dort Eintritt verlangen. „National-Museen müssen kostenlos sein“, lautet dagegen sein Credo. Historisches Erbe sei quasi die Privatsammlung jedes einzelnen Bürgers und dürfe nicht der Marktwirtschaft untergeordnet werden. Da darf man gespannt sein, wer in dieser Frage im Berliner Humboldtforum das letzte Wort hat.
Detlef Untermann