Die Berliner Charité steht für Spitzenmedizin von Weltrang. Berlin vis-à-vis sprach mit Prof. Dr. Karl Max Einhäupl, 68, dem Leiter des Universitätsklinikums, über ein Stück Berliner Erfolgsgeschichte und die Probleme und Herausforderungen der modernen Medizin.
Herr Prof. Einhäupl, Sie sind vielfach ausgezeichnet worden, u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz, und wurden nach der Wiedervereinigung an die Charité zum Chef der Neurologie berufen, seit 2008 sind Sie Vorstandsvorsitzender. Welche Station Ihrer beruflichen Laufbahn hat Sie besonders geprägt?
Das war zweifellos die Berufung an die Charité 1992 und die damit verbundene Möglichkeit, die Neurologie zu gestalten. Heute sind die Neurowissenschaften an der Charité eines der Aushängeschilder in Berlin.
Vermissen Sie manchmal die medizinische Praxis?
Ich bedauere, dass ich keine Patienten mehr behandeln kann. Ich bin aber immer offen, wenn ich im Freundes- oder Kollegenkreis um medizinischen Rat gebeten werde.
Als Sie an die Charité kamen, war außer Ihnen nur ein weiterer West-Kollege an der Charité. Heute ist sie eine der wichtigsten Kliniken in Deutschland.
Es war extrem spannend damals, weil die Zeit auch politisch enorm aufgeladen war. Man musste zwischen klinischem Aufbau, wissenschaftlicher Präzision und politischem Geschick versuchen, sich hier in Berlin als Charité wieder völlig neu zu positionieren. Das ist in der Tat gelungen. Die Charité ist heute die Nummer eins unter den deutschen universitären Medizinmarken. Wir sind, was die Indikatoren für wissenschaftliche Leistung angeht, führend in Deutschland und haben zum dritten Mal in Folge in der Focus-Liste den ersten Platz als beste Klinik Deutschlands besetzt, also noch vor unseren Mitbewerbern in München und Heidelberg, beides ebenfalls hervorragende Universitätskliniken.
Welche Rolle spielt dabei die historische Bedeutung der Charité im öffentlichen Bewusstsein?
Die Charité war am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Weltzentrum der Medizin. Wenn man in der Medizin etwas darstellen wollte, musste man auch in Berlin gewesen sein. Heute ist die Charité wieder eine der Kliniken, die vor allem für die Behandlung von komplexen Krankheitsbildern stehen. Sie steht mittlerweile in der internationalen Wahrnehmung ganz oben. Dies ist eine der besten Voraussetzungen, die besten Köpfe zu gewinnen, die hier forschen sollen.
Wenn man das Image des Standortes vergleicht mit dem vor 100 Jahren ...
Es ist heute schwieriger als vor 100 Jahren, ein Mythos der Medizin zu werden. Als Sauerbruch zum ersten Mal am offenen Thorax operiert hat, war das eine Leistung, die um die ganze Welt ging. So etwas ist heute undenkbar. Die erste Herztransplantation von Christiaan Barnard in Südafrika wäre noch so ein Beispiel für spektakuläre Medizinerfolge.
Worin sehen Sie die Hauptmerkmale der heutigen Medizin?
Wenn man bedenkt, dass viele Krebserkrankungen heute heilbar sind, ist das ein Verdienst moderner Medizin. Und wir sind beteiligt an diesem Prozess. Rein statistisch erhöht sich Ihre Lebenserwartung heute pro Jahr um 70 Tage. Das ist ein Verdienst moderner Forschung, die eine Kernaufgabe der Charité ist. Und die Erkenntnisse daraus wollen wir direkt für unsere Patienten zugänglich machen.
Es gibt trotz allem auch eine gewisse Krankenhausskepsis. Wie berechtigt sind die Sorgen vieler Patienten, sich auf einer Krankenstation zu infizieren? Wie andere Medizineinrichtungen hat auch die Charité mit den Problemen der Krankenhauskeime zu kämpfen.
Das Problem als solches ist unbestreitbar. Allerdings darf man dabei die Ursachen nicht außer Acht lassen, die nicht allein im Krankenhausbetrieb liegen. Sie sind wesentlich vielschichtiger. Wenn man heute ein Hühnchen oder einen Schweinebraten isst, bekommt man eine gute Dosis Antibiotika mit. Und diese Antibiotika machen Keime resistent. Deshalb müssen wir heute wiederum Antibiotika entwickeln, die sich gegen solche MRSA-Keime (Multiresistenter Staphylococcus aureus, Anm. d. Red.) durchsetzen. Und es gibt viele andere Keime, die noch problematischer sind.
Und auch noch weitere Ursachen?
Ein weiteres Problem ist, dass wir viele ausländische Patienten haben, die zu uns oftmals als letzte Instanz kommen und Keime mitbringen, die wir bisher nicht gekannt haben und die ebenfalls häufig resistent sind gegen Antibiotika. Ein dritter Punkt ist, dass wir viele Patienten mit schweren Immundefekten behandeln, ob es ein Asthmatiker ist, der Kortison einnimmt oder ein knochenmarkstransplantierter Patient, der überhaupt keine Immunabwehr mehr hat. Das und noch andere Faktoren führen heute dazu, dass Krankenhauskeime zum Alltag jeder Klinik gehören.
Das heißt, es ist kein Problem der Hygiene im eigenen Haus?
Natürlich haben die Krankenhäuser auch ihren Anteil daran. Wenn sich z. B. mehrere Patienten in einem Bereich mit einem Keim aus demselben Stamm infiziert haben, dann kann das nur auf dieser Station passiert sein. Es ist immer einfach, auf die medizinische Hygiene zu schimpfen. Aber es gibt keinen 100-prozentigen Schutz vor einem Ausbruch auf einer Station. Es kommen Besucher zum Patienten, Schwestern und Pfleger, die mehrere Patienten betreuen müssen. In diesem Dilemma befinden sich alle Kliniken. Die Charité steht da nicht schlechter da als viele andere Kliniken mit Spezialpatienten. Wir haben eine hervorragende eigene 40-köpfige Hygieneabteilung, davon 20 wissenschaftliche Mitarbeiter, die forscht, behandelt und diagnostiziert. Die Institutsdirektorin, Professor Petra Gastmeier, wurde in diesem Jahr mit dem Preis für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention der Robert-Koch-Stiftung ausgezeichnet.
An Ihr Haus werden auch große wirtschaftliche Anforderungen gestellt. Dementgegen steht die Aufgabe, jedem Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Wie treten Sie diesen Kampf an?
Der Bedarf an medizinischen Ressourcen für die Gesundheit von Menschen ist nach oben hin unbegrenzt. Ein alter Freund hat mal gesagt: Dem Menschen wäre es am liebsten, wenn hinter jedem Pkw ein Notarztwagen fahren würde. Das wäre die beste Möglichkeit, Unfallopfer schnell zu versorgen, was utopisch ist. Natürlich kann man immer noch mehr Personal fordern und dass die Wartezeiten kürzer werden usw., aber das Gesundheitssystem muss auch finanzierbar bleiben. Die Aufgabe der Politik ist, ein Gesundheitssystem zu gewährleisten, das einerseits noch solidarisch finanziert werden und dabei ein Maximum an Versorgungsqualität bieten kann. Wir stehen vor großen Herausforderungen.
Weil die Kosten für medizinische Versorgung ständig steigen?
Aber nicht, weil Mediziner mehr verdienen. Die Kostenexplosion kommt dadurch zustande, dass die Möglichkeiten moderner Medizin immer größer werden und immer teurer. Komplexe Krankheiten werden zunehmend mit sogenannten Biologika behandelt anstatt den üblichen chemisch hergestellten Wirkstoffmolekülen. Wir versuchen, viele Krankheiten mit Zelltherapie zu behandeln. Das kostet viel Geld. Und wenn die Patienten in Zukunft von all diesen Errungenschaften partizipieren wollen, kann das die Allgemeinheit nicht mehr für jeden Einzelnen finanzieren.
In manchen Debatten dazu werden gern die negativen Auswirkungen einer Zwei-Klassen-Medizin ins Feld gerückt.
Deutschland hat das beste Gesundheitssystem der Welt, bei dem jeder Mensch mit jeder Krankheit freien Zugang zu allen medizinischen Möglichkeiten hat. Das gibt es nahezu in keinem anderen Land. Aber auch Deutschland wird das in absehbarer Zeit nicht mehr in vollem Umfang finanzieren können. Gesundheit ist ein konditionales Gut. Ohne Gesundheit ist man in der Gesellschaft nicht wettbewerbsfähig. Deshalb darf bei Gesundheitskosten keinerlei Differenzierung zwischen Arm und Reich gemacht werden. Und solange sich eine Zwei-Klassen-Medizin auf die kleine Tischdecke unter dem Essensteller beschränkt, habe ich kein Problem damit. Wenn es aber so kommt, dass die medizinische Versorgung sich danach richtet, dann haben wir in unserer Gesellschaft ein echtes Problem.
Sparmaßnahmen, zu denen auch die Charité gezwungen ist, erfordern einen Personalabbau. Ist ein Rückgang des medizinisch hohen Niveaus zu befürchten?
Krankenhäuser sind extrem personalintensive Einrichtungen. An manchen Stellen entstehen etwa 70 Prozent der Kosten durch das Personal. Sobald Krankenhäuser gezwungen sind zu sparen, geht das auf Kosten der Personalausstattung. Ich befürchte, dass wir das solidarische Prinzip nicht mehr ewig durchhalten können. Darum sind wir auf politischer als auch auf medizinischer Seite herausgefordert, diesen Zeitpunkt so lange wie möglich hinauszuschieben bzw. ihn bestenfalls ganz zu vermeiden.
Sind mit dem Zustrom von Flüchtlingen in Berlin neue Krankheiten zu befürchten? Wie reagiert die Charité auf das Problem?
Nein, es gibt glücklicherweise keine auffälligen Krankheitsbilder, die es in Deutschland nicht auch gibt, zumal es auch vorwiegend jüngere und gesunde Menschen sind, die hier bei uns eintreffen. Die größten Herausforderungen sehen wir in der Behandlung der Traumatisierungs- und Angststörungen, die uns noch eine sehr lange Zeit beschäftigen werden. Es haben sich in unserem Haus mehr als 350 Mitarbeiter – Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und auch Mitarbeiter der Verwaltung – für die Versorgung von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt, die in Unterkünften tätig sind und bei Bedarf Patienten zu uns in die Charité schicken.
Danke für das Gespräch.
Ina Hegenberger