Kennen Sie das Geräusch, wenn alte Tapeten von der Wand abgenommen werden und Putz- oder Kleisterreste am Grund der Bahnen haften bleiben? Es ist der knirschende Sound der Erneuerung, denn es ist mal wieder Zeit für einen Tapetenwechsel.
Mit einem Lustschauer werden die zuvor befeuchteten Bahnen abgerissen, um nicht selten Überraschungen zutage zu fördern. Farbanstriche, die wie Freskenmalerei anmuten oder eben schichtenweise Aufgeklebtes, als wäre das Zuhause eine Litfaßsäule. Manchmal verbleiben Fragmente, die mühsam abgespachtelt werden müssen. Oder eine frisch gekleisterte Bahn glitscht einem entgegen, statt an der Wand zu haften. Von solchen Erlebnissen erzählen all jene, die selbst Hand anlegen.
Trotz aller Mühe und dank technologischer Raffinessen wie selbstklebende Vliese feiern Tapeten ein Comeback auf allen Preisebenen. Die Fantasiewelten von feingrafisch mit Origami-Anmutung („Modular“ von Bien Fait) und geometrisch („Kaleidoskop“, Tapeten der 70er, „Harlekin“, IKEA) bis dezent klassisch („Blue Pine“ von Little Green) oder verwunschen (Premiumbereich, „Amazonia Dark“ von Witch and Watchman) bereichern das Wohnen. Tapeten sind ein spielerisches Element, das seinen Charme in verschiedenen Dimensionen entfaltet. Hier mal eine Borte, dort mal eine tiefenräumliche Illusion, Glitzer, 3-D-Effekte, eine raffinierte Musterbahn, die herkömmliche Ordnungssysteme sprengt wie etwa die schwarmähnliche Strichelei von Copenhague (Bien Fait), illustrative Stadtpanoramen, Garten- und Paradiesvögel, klassische Streifen von Farrow & Ball, Pünktchen (Marimekko) oder ganz, ganz groß „The Chat“, von der Illustratorin Beatrice Alemagna, für all jene, die ein lustiges Wandtier lieber mögen als sich zum Untertanen eines realen Vierbeiners zu machen – oder eben beides.
Tapeten schreiben Geschichte, was jeder für sich schon allein im Rückblick auf den Geschmack von Großeltern, Tanten und auf die eigenen frühen Versuchungen erkennen kann. Gruselig, aber fast schon museumsreif, sind alte Raucherzimmertapeten mit rosa-beigem Rhombenmuster, das langsam ins Braunocker hinüberdämmert. Der Internethändler „Tapeten der 70er“ bietet weltweit Designs, deren Experimentierlust, so sagt es Gründer und Geschäftsführer Sven Rohleder, verwandt ist mit der Lebenslust der Siebziger, die große, freche Muster, Kreise in Pink und Orange, organische Designs in Braun-ocker-oliv und Lust auf Weltraumerkundung und Clubatmosphäre ins Wohnzimmer brachte. Der Thüringer setzte auf die Ablösung von Raufaser mit Mustervielfalt und hatte offenbar ein punktgenaues Trendgefühl für die Retrosehnsucht, die zugleich nach vorn schaut, derweil für den Massengeschmack lieber Dezentes in Rosé und Zartgrau, abwaschbar und fleckverträglich produziert wurde – blasse Röschen, Ranken oder diffuse orientalische Ornamente mit Schimmereffekt. Dem Megatrend Natur, der ja schon seit einigen Jahren Birken in die Innenräume katapultiert, hat sich die Firma Erismann mit vier Motiven der Tapeten-Kollektion „Fashion Wood“ gewidmet; sie wurde in der Kategorie „Home Textiles and Home Accessories“ für den German Design Award 2016 nominiert.
Handgemalte Tapeten und individualisierte Massenproduktion sind die zwei Pole einer nahezu unübersehbaren Produktvielfalt, wobei immer mehr Materialien und Beschichtungen (Sand, Leder, Federn und Textil, Kunststoffe und Metall) neue Texturen ermöglichen sowie durch zusätzliche smarte Funktionen (Lichtführung, Hydrobalance) über die Erfindung von raffinierten Bildwelten hinausführen. Die Digitalisierung inklusive der Hochleistungsscanner gaben einen entscheidenden Schub für die Vermusterung jedweden Alltagsdings von Knopf bis Sonnenbrille (Studio Ditte, NL).
Im historischen großen Bogen wird Tapetengeschichte in Kassel geschrieben. Das Tapetenmuseum ist ein Ort gehobener Schaulust. Das Auge wandelt in prachtvollen Panoramen, Gärten und exotischen Landschaften oder verliert sich in raffinierten Mustern. Die Schönheiten präsentieren sich Bahn für Bahn. Goldleder, Damast, Papierprägung, Holzmodeldruck, Maschinendruck, große und weniger bekannte Manufakturnamen und Künstlertapeten wie von Niki de Saint Phalle. Rocaille-Dekor aus dem 18. Jahrhundert. Blasse Lilien im seidig schimmernden Salongrün des Jugendstils. Die mäandernde Geometrie der Dreißiger, Tanzpaare der Fifties oder eben die psychedelischen Exzesse der Siebziger. Die Vielfalt mag verwirren. Wofür entscheiden, flackert als leuchtende Frage im Raum. Vom Bauhaus bis zur Gegenwart sind es auch Frauen, die Tapetengeschichte schrieben. Der irischen Designerin Orla Kiely ist es gelungen, mit stilisierter Natur, einem schlichten Stängel samt Blättern, ein bleibendes, variierbares Motiv zu entwickeln, das ein Markenzeichen wurde, ebenso wie die Finnin Maija Isola, ehemals Chefdesignerin für das Label „Marimekko“, stilprägend die lustigen roten Mohnblüten mit schwarzem Punkt in der Mitte erfand („Pieni Unikko Magenta“).
Die Berliner Designerin Gosia Warrink liebt Inszenierungen und Interieurs. Deshalb entwirft sie Tapeten: einerseits spielerisch, wie „icon safari“ mit Zebra, Tiger und Dalmatiner als Ausmaltapete fürs Kinderzimmer, oder elegant wie das schwarz-irisierende „Caviar Silk“. Die gebürtige Polin malt, fotografiert, zeichnet und experimentiert gerne zum Thema Essen. Um eine zusätzliche sinnlich-künstlerische Dimension geht es ihr auch bei dem mit Schokolade und Karamell gemalten Tapetendesign „Caramel Oriental“ und „Schokoladenhommage an Pollock“. Außerdem gestaltet sie auch von Hand bemalte Tapeten, die noch bis Ende Mai in der Kunstgalerie Bernheimer Contemporary in Mitte ausgestellt sind.
Tapeten sind Illusionskünstler. Sie gaukeln nicht nur Beton, bröckelnde Backsteinmauern, Altholzwände, Moosbewuchs oder gleich den Dschungel vor, sondern erzählen auch Geschichten und verzaubern die Räume.
Anita Wünschmann