Hockey steht für Tempo, Ge-schmeidigkeit und Mannschafts-geist. In Deutschland ist es sogar die erfolgreichste olympische Mannschaftssportart. Und dennoch führt der elegante Sport, der auf dem Rasen und in der Halle gespielt werden kann, hierzulande ein Nischendasein.
Sheikh Mohammed Naqi war in Pakis-tan eine Berühmtheit. Seine Stimme kannte jeder, denn der Mann kommentierte im Rundfunk alle wichtigen Hockeyspiele des Landes, welches dem Erzfeind Indien gerade die jahrzehntelange Vormachtstellung im Rasenhockey streitig machte. So hatte sich Naqi gut vorbereitet auf das olympische Finale von 1972 in München und wusste um die Vorgeschichte des Kapitäns der deutschen Siegermannschaft. Carsten Keller ist der Sohn von Erwin Keller, dessen Team im olympischen Endspiel von 1936 im heimatlichen Berlin gegen das damals übermächtige Indien mit 1:8 untergegangen war, erzählte der Reporter seinen Landsleuten während der Übertragung.
Elf Jahre später verschlug es dem inzwischen ergrauten Naqi die Sprache. Im Eröffnungsspiel der traditionellen Champions Trophy in Karatschi lief mit der deutschen Nummer 10 ein Spieler auf, der wieder den Namen Keller auf dem Trikot trug – aber ganz anders und viel jünger aussah als der 72er Olympiasieger. Nachforschungen des pakistanischen Radio-Mannes ergaben, dass Andreas Keller die Familientradition fortsetzte und nun den Ton in seiner Nationalmannschaft angab. Ob Naqi heute noch forscht in Sachen deutsches Hockey und weiß, dass auch Andreas Kellers Schwester Natascha und sein Halbbruder Florian Olympiagold gewannen und sein 15-jähriger Sohn Luca das noch anstrebt, ist nicht bis Europa vorgedrungen.
So haben sich die Zeiten geändert. Gegenwärtig schauen die Pakistani und vor allem die Inder nach Europa, wo sich die Herren mit schöner Tradition seit 1988 die Olympiasiege holen. Mit Ausnahme von 2004, als in Athen die Mannschaft von Australien triumphierte. Ausgerechnet Australien! So dachten die Inder seinerzeit. Hatten sie doch auf dem fünften Kontinent innerhalb eines Monats einmal 27 Testspiele hintereinander mit zweistelligen Resultaten gewonnen, als sie sich auf die Sommerspiele 1932 in Los Angeles vorbereiteten. Dort, im Westen Amerikas, holten die Inder dann den zweiten von sechs aufeinanderfolgenden (insgesamt acht) Olympiasiegen. Nur die Briten galten in dieser Zeit als nahezu ebenbürtig, doch die einstige Kolonialmacht weigerte sich hartnäckig, bei Olympischen Spielen gegen Indien anzutreten. Dafür luden sie die Goldmedaillengewinner stets auf die Insel ein, um diese als „Revanche“ geplanten Partien mit schöner Regelmäßigkeit zu verlieren. Deshalb war es für die Inder nach den Niederlagen gegen Pakistan eine besondere Schmach, 1988 in Seoul ausgerechnet vom ehemaligen Kolonialherren als Olympiasieger abgelöst zu werden.
In dem Spiel mit dem Schläger oder Hockeystock, der von Schäfern auf der britischen Insel erfunden worden sein soll, fanden die Inder in den Zeiten der Kolonialherrschaft ein Ventil, den Europäern wenigstens auf einem Gebiet Überlegenheit zu demonstrieren. Die körperliche Geschmeidigkeit und ihre Gabe, den Ball nicht neben, sondern vor dem Körper zu führen, machte sie auf Jahre hinweg unschlagbar. Tipps auf den Olympiasieger im Hockey nahmen englische Buchmacher in den 30er-Jahren überhaupt nicht erst an. So turmhoch waren die Inder favorisiert. In dem Volkssport schöpfte das Land schon damals aus einem Reservoir von mehr als zwei Millionen organisierten Spielern. In Deutschland gibt es derzeit rund 80 000 aktive Spieler in weniger als 400 Vereinen.
„Hockey ist die schönste Sportart der Welt“, schwärmt Carsten Keller heute noch und begründet sein Votum neben Tempo, Geschmeidigkeit, Mannschaftsgeist und meistens mehr Treffern als im Fußball vor allem mit der Fairness. Alle Sportarten, die von der britischen Insel ausgingen, haben die hohe Achtung des Gegners und die absolute Fairness als oberstes Gebot. Hier gilt Hockey – neben Snooker als Königsdisziplin im Billard – als Aushängeschild. Wenn auch über Entscheidungen des Schiedsrichters manchmal ein Kopfschütteln angebracht ist, wird es nie Proteste der auf dem Feld befindlichen Akteure geben. Die Partie wird meistens so rasch nach dem Pfiff fortgesetzt, dass der Zuschauer ebenso schnell den Kopf wenden muss, wenn er den Lauf des knallharten Balles verfolgen will. Rudelbildung um den Unparteiischen, wildes Gestikulieren, das Spucken auf den gewässerten Kunstrasen und schauspielerische Einlagen nach angeblichen Fouls gibt es nicht in dem Sport, bei dem nach wie vor von Damen und Herren statt Frauen und Männern gesprochen wird und in dem die Damen als Pflichtkleidung immer noch im – heute kürzeren – Röckchen auf den Platz laufen.
Wenn sich die Waage des Erfolges von Indien immer mehr hin nach Europa neigte, hat das mit der heute sehr stark veränderten Spielweise zu tun. Wie in allen Mannschaftssportarten stehen statt der schönen und fließenden Kombinationen viel mehr Athletik und Kraft im Vordergrund. Das erkannten die Mannschaften vom alten Kontinent, und dass nur so den geschmeidigen und von Natur aus gewandteren Indern und Pakistani beizukommen war. Trotzdem ist der mit dem Kraft-Stil aufgekommene Schmähbegriff „Knüppelgarde“ für die nach wie vor elegante Sportart nicht zutreffend.
So waren vor allem die Deutschen seit dem Olympiasieg von München 1972 in die Phalanx der Südasiaten eingebrochen. Der Weg war lang, denn schon seit dem Silvestertag 1909 besteht der in Bonn gegründete Deutsche Hockey-Bund. Es bildeten sich Hochburgen in Berlin – wo Familie Keller beim traditionsreichen vielmaligen Meister BHC in den Annalen steht –, Hamburg, München und im Rheinland mit Mülheim und Köln. Im Osten des Landes, beispielsweise in den kleinen Städten Köthen und Osternienburg, ist Hockey so verbreitet, dass es sogar ein Lehrfach in der Schule bildet.
Trotzdem ist die faire und attraktive Sportart nie über ein Nischendasein hinausgekommen und findet im Fernsehen höchsten bei Olympischen Sommerspielen Eingang in die Programme. Und so kommt es auch, dass die Kellers als berühmteste Hockey-Familie der Welt heute noch in Indien und Pakistan bekannter sind als in ihrer Heimatstadt Berlin.
Hans-Christian Moritz