Wind im Wohnzimmer

Das traditionelle Leichtathletik-Sportfest ISTAF wird am 3. September zum 75. Male ausgetragen. 

Robert Harting weist ins weite Rund und nimmt eine Anleihe bei Boris Becker. „Das ist mein Wohnzimmer“, erklärt der Diskusriese mit Blick in das Berliner Olympiastadion und kopiert damit den alternden deutschen Tennisstar. Der hatte nach seinem dritten Wimbledonsieg 1989 behauptet, die Anlage in London wäre nun wie sein Wohnzimmer.

Ganz von der Hand zu weisen ist dieser Vergleich nicht. Der mittlerweile schwergewichtige Becker wird heute im Areal um den „heiligen Rasen“ immer noch wie ein Messias verehrt und ist während der Tennisspiele einer der begehrtesten Kommentatoren am Mikrofon. Harting genießt im Innenbereich des massigen Steinbaus im Stadtteil Charlottenburg Heldenstatus, seit er im Jahre 2009 mit dem letzten Wurf auf 69,43 Meter den Weltmeistertitel an sich riss. Seinerzeit toppte der gebürtige Lausitzer und längst bekennende Berliner seinen Urschrei nach dem Triumph durch das medial aufgewertete Zerfetzen seines durchschwitzten Trikots, was inzwischen zum Ritual nach gewonnenen internationalen Titeln geworden ist. Und da hat der Olympiasieger, dreimalige Weltmeister und zweifache Europameister schon eine Menge Textil zerstört. Bei den alljährlichen Wettbewerben des ISTAF gehört das nicht einmal nach Aufforderung durch die Journalisten dazu. In seinem Wohnzimmer möchte sich der Zwei-Meter-Mann auch nach dem Wettkampf den Zuschauern in ordentlichem Aufzug präsentieren. Das wird in diesem Jahr ganz besonders so sein. Denn am 3. September feiert das ISTAF Jubiläum und ist mit seiner 75. Austragung eines der ältesten Sportfeste der Leichtathleten weltweit.

Diesen Status konnten die Berliner Vereine BSC, SC Charlottenburg und Schwimm Club Poseidon am 3. Juli 1921 niemals absehen, als sie Athleten aus anderen Ländern zu einem Internationalen Stadionfest – daher der Name ISTAF – in das damalige Grunewaldstation einluden. Die 20 000 Besucher waren begeistert, und so wurde eine Neuauflage nach der anderen beschlossen. Mittlerweile verfolgten mehr als zwei Millionen Zuschauer die Wettkämpfe der 74 Veranstaltungen und stellten dabei sogar einen Weltrekord der besonderen Art auf: Im Jahr 2007 verfolgten genau 70 253 Leichtathletik-Freunde die Wettkämpfe in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Areal und hoben das ISTAF aufs Podium des zuschauerstärks-ten Eintages-Meetings.

Seinerzeit war Berlin noch der Abschluss einer Golden League genannten Serie von Wettbewerben. Dabei lockte ein Jackpot von einer Million Dollar denjenigen Sportler, der alle Wettkämpfe der meistens sieben Stationen umfassenden Gala gewann. Waren das mehrere Topathleten, so teilten sie sich den Geldberg. 2007 strichen die amerikanische 400-Meter-Läuferin Sanya Richards und die russische Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa auf diese Art jede eine halbe Million Dollar ein. Zwei Jahre zuvor hatte die russische Läuferin Tatjana Lebedjewa den Jackpot allein geknackt und war zur Millionärin geworden.

Wenn Berlin auch heute vorübergehend aus der Liste der ganz großen und hoch dotierten Meetings herausgefallen ist, tat das der Anziehungkraft des ISTAF keinen Abbruch. „Wir erwarten auch in diesem Jahr mehr als 55 000 Zuschauer rund um die blaue Bahn und werden alle deutschen Medaillengewinner der Olympischen Spiele von Rio de Janeiro begrüßen können“, versprach Meeting-Direktor Martin Seeber schon bei der ers-ten Präsentation der Disziplinen im Frühjahr. Es gehört zur guten Tradition der Veranstaltung, dass sich besonders die einheimischen Athleten nach großen internationalen Meisterschaften noch einmal dem Publikum vorstellen, das nicht nur aus Berlin oder dem Umland ins altehrwürdige Stadion kommt, sondern oft von sehr weit anreist, um die Stars zu bewundern.

Schließlich erwartet man von den deutschen wie den internationalen Athleten Topleistungen zum Abschluss der Saison, diesmal sogar einer olympischen. 16 Weltrekorde wurden hier schon verzeichnet. Gleich bei der ersten Auflage an heutiger Stätte sprintete die Polin Stanislawa Walasiewicz die 100 Meter in 11,6 Sekunden und trug sich in die Rekordliste ein. Das beobachteten ein Jahr nach den Sommerspielen in dieser Arena sogar 80 000 Menschen. Allerdings war die Anlage damals noch in anderem baulichen Zustand und fasste genauso viele Besucher.

Den populärsten Weltrekord im Olympiastadion stellte am 26. August 1977 die Cottbuser Hochspringerin Rosemarie Ackermann auf, die als erste Frau überhaupt die heute noch magische Zwei-Meter-Marke überquerte. Diese historische Leistung – noch im Wälzerstil – wurde mitten im Kalten Krieg von beiden politischen Lagern bis zur Erschöpfung ausgeschlachtet. Den vorerst letzten der 16 Weltrekorde markierte im Vorjahr die Kenianerin Virginia Nyambura Nganga mit 6:02,16 Minuten auf der Hindernisstrecke über die selten gelaufenen 2 000 Meter.

Nach Ausfällen wegen des Krieges oder Attentaten sowie Umzügen wegen Umbauten – zum Beispiel 2002 und 2003 in den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark – ist das Olympia-stadion nunmehr traditionelle Austragungsstätte des ISTAF. Mit 15 Disziplinen und einem bunten Rahmenprogramm gibt es wie in fast jedem Jahr auch diesmal wieder eine Neuerung, und die betrifft nicht nur die Austragung am Abend unter Flutlicht. Um Robert Harting die Wohnzimmer-Atmosphäre noch zu verschönern, haben die Organisatoren einen Wunsch des Athleten aufgegriffen. „Wir haben den Ring fürs Diskuswerfen auf die andere Seite verlegt. Geworfen wird aus der Ostkurve in Richtung Marathontor. Damit wird die sonstige Hertha-Kurve zur Harting-Kurve“, schildert Martin Seeber. Aber der Hauptgrund ist ein anderer: Wegen der Windverhältnisse in der Steinschüssel erhofft sich der dreimalige Weltmeister ein besseres Luftpolster für die Flüge seiner Zwei-Kilo-Scheibe. „Das habe ich mir seit Jahren gewünscht, denn da haben wir voraussichtlich Gegenwind“, freut sich Robert Harting auf ein für ihn möglichst zugiges Wohnzimmer.

Hans-Christian Moritz

 

67 - Sommer 2016
Sport