Der Raum als Kosmos

Seine großen Visionen und avantgardistischen Projekte sind heute aktueller denn je, und er setzte Meilensteine in der Architektur- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts: Friedrich Kiesler. Erstmals in Deutschland vermittelt eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Einblicke in das vielfältige Werk des bedeutenden Universalkünstlers.

Das einzige Gebäude, das von Friedrich Kiesler geplant und tatsächlich 1965 in Jerusalem gebaut wurde, war ein Schrein für alttestamentarische Schriftrollen. Dass Kiesler dennoch zur Künstleravantgarde des vergangenen Jahrhunderts gehört, liegt weniger am Sichtbaren seines Werks, wie wir es beispielsweise von der noch existierenden Bauhausarchitektur kennen. Die Kuratoren richten  den Fokus vielmehr auf das Übergreifende seines Schaffens und erklären: „Sein die Grenzen der einzelnen Kunstgattungen sprengender künstlerischer Ansatz, sein Konzept eines endlos fließenden Raumes und seine ganzheitliche Designtheorie des Correalismus zählen zu den großen Visionen des 20. Jahrhunderts und erfreuen sich ungebrochener Aktualität.“ So war Friedrich Kiesler, geboren 1890 in Czernowitz, gestorben 1965 in New York, im bes-ten Sinn Universalkünstler: Architekt, Bühnenbildner, Designer, Bildhauer, Theoretiker und Lehrender.

Nach seinem Studium an der Technischen Hochschule und der Akademie der Künste in Wien entwirft er 1923 sein erstes spektakuläres Bühnenbild. Es folgen Aufträge für eine neue Bühnen- und Theatertechnik und der Entwurf eines „horizontalen Wolkenkratzers“. Wohnungen mit mehr Luft und Sonnenlicht für die Bewohner waren der Kerngedanke dieses Wohnbauprojekts. Mit dem Modell einer sogenannten Raumstadt, als Vision einer schwebenden Stadt der Zukunft, 1925 im österreichischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung des Kunstgewerbes und des Industriedesigns gezeigt, verabschiedet sich Kiesler aus Europa und übersiedelt nach New York. Wohl in der Annahme, in Amerika mehr Aufmerksamkeit für seine avantgardistischen Ideen zu bekommen. Seine Raumstadt war die radikale Abkehr von traditionellen Wohnhäusern. Die bezeichnete er als „Steinsärge, die aus der Erde in die Luft ragen“, da sie gesundheitsfördernde Umweltfaktoren nicht integrierten.

Doch auch in New York stoßen derartige Vorstellungen zunächst auf wenig Interesse. So betätigt er sich als Designer und gestaltet Schaufenster und Geschäfte, entwirft Möbel, Lampen und Interieurs, richtet Ausstellungen in berühmten Galerien ein. Und er ist „ein Künstler für Künstler“, pflegt Freundschaften mit den Surrealisten im New Yorker Exil, besonders mit Marcel Duchamp.

Erst in den 1930er Jahren beschäftigt sich Friedrich Kiesler wieder mit neuen Wohnideen. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise entwirft er Einfamilienhäuser, die preisgünstig sind, aber auch seinen Vorstellungen entsprechen: Häuser mit der Struktur des Atoms und der biologischen Zelle, wie er es nennt. So entstehen seine Modelle für das Nucleus House und das Space House. 

„Das eigentliche Ziel“, schreibt er später, „ist die Lösung des Wohnungsproblems von einem sozialen Gesichtspunkt aus wie auch von dem des Einzelnen und seines persönlichen Bedarfs.“ Der Raum als solcher ist Kieslers eigentliches Thema und Forschungsgegenstand: „Das Haus muss endlich ein Kosmos in sich selbst werden, ein Transformator von Lebenskräften, die sich natürlich in dieser künstlichen Umgebung zu unglaublichen Dimensionen der Weite und Zurückgezogenheit entwickeln. Das Wohnhaus muss nicht mehr als Aussatz und Warze der Erdoberfläche vegetieren, sondern einem Kristall, einem Planeten, einer Frucht, einem Auge und Muskel, einem Atom gleich, seinen Platz in der Welt der Kreationen einnehmen.“ Den Raumgedanken führt er schließlich soweit, dass er einen endlos fließenden Raum propagiert. Das Modell eines solchen Endless House zählt zu den Ikonen des 20. Jahrhunderts und hat Generationen von Architekten und Designern beeinflusst.

Wohn- und Lebensraum als „Aktionsraum“ aufzufassen, ist zu der Zeit im wahrsten Sinne visionäre Architektur. Im Laboratory for Design Correlation an der Columbia University, das Kiesler von 1937 bis 1941 leitet, entwickelt er dazu seine Correalismustheorie. Sie geht davon aus, dass ein Gebäudekomplex nicht nur das ist, was er als geometrische Form darstellt, sondern das, was er ausstrahlt … So weisen Kieslers wissenschaftliche Arbeiten, seine Vorstellungen von einem ganzheitlichen Designansatz, bis in unser Jahrhundert.

Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau vermittelt erstmals Einblicke in das vielschichtige Schaffen dieses für die Architektur- und Kunstgeschichte so bedeutsamen Theoretikers und Universalkünstlers. Neben wichtigen Projekten und seinem künstlerischen Umfeld in New York werden auch Kieslers bildhauerische Arbeiten erstmals gezeigt.

Reinhard Wahren

 

Information:
Friedrich Kiesler: Architekt,
Künstler, Visionär. Bis 11. Juni 2017 im Martin-Gropius-Bau,
Niederkirchnerstraße 7,
10963 Berlin

69 - Winter 2017
Kultur