Yvonne Haug will bei der Weltmeisterschaft ihren Titel im Pole-Sport verteidigen. In rund drei Meter Höhe hängt Yvonne Haug kopfüber an einer glänzenden Metallstange und lächelt ins Publikum. Die Beine sind Richtung Kuppel-Decke gestreckt, ihr Körper windet sich so eng um das Sportgerät, dass die Hände als einzige Verbindung nicht zu sehen sind. Nach fast fünf Minuten beeindruckender Akrobatik lässt sich die Berlinerin sanft auf den Parkettboden gleiten und genießt den Applaus aus dem Halbdunkel. Tanz an der Stange oder Pole-Dance wird oft mit schummrigen Stripclubs in Verbindung gebracht. Die Sportlerin winkt ab und kann sich darüber schon nicht mehr ärgern. „Das macht mich nicht mehr heiß. Inzwischen freue ich mich über jede Aufmerksamkeit, mit der es gelingt, meinen Sport ein kleines bisschen weiter aus der so tiefen Nische zu holen“, erzählt sie und zeigt mit einer winzigen Lücke zwischen den hellrosa lackierten Fingernägeln, wie ein kleines bisschen aussieht.
Sehr weit hergeholt ist die Verbindung zum Rotlichtmilieu nicht. Der Ursprung des heute Pole-Sport genannten Trends stammt aus China, wo die Männer im Zirkus ähnliche Übungen an einer Stange vorführten. Frauen mussten in dieser Zeit ein extra Zelt nutzen, wofür die männlichen Besucher Eintritt zu zahlen hatten und wobei die Art der Artistik und die Kleiderordnung der Asiatinnen nicht genau überliefert ist. Aber in diesem Zusammenhang lässt sich die Hinleitung zum Tabledance vermuten.
Dass die Frauen – und auch Männer – im Pole-Sport sich mehr als deutlich vom Erotik-Geschäft abgrenzen, zeigt ein dicker Ordner mit sehr ausfühlichen Regeln, die sich die wohl jüngste Sportart mit dem Entstehen vor einem guten Jahrzehnt gegeben hat. „Die knappe Kleidung muss sein, weil die Haut den Kontakt zur Stange braucht“, erklärt Yvonne Haug. „Aber es ist vorgeschrieben, wie die Brust und vor allem der Po bedeckt sein müssen, wie viel Fleisch um den Bauchnabel zu sehen sein darf – sogar die Maße der Kleidung sind geregelt“, zeigt die Berlinerin auf den Papierberg, der sich seit ersten sportlichen Übungen an der Stange so etwa 2004 in Nordamerika und auf dem fünften Kontinent gebildet hat.
Geregelt ist auch die Höhe und Dicke der Stange, nämlich vier Meter hoch und 4,5 Zentimeter im Durchmesser, die Übung darf genau vier Minuten dauern, Musik ist erlaubt, aber kein Gesang, um politische Botschaften zu vermeiden. „Da ist man ganz genau, und wehe ich überschreite die 30 Sekunden auf dem Boden.“ Denn bei dem Wechsel der Turnerin zwischen der feststehenden und der benachbarten und durch die Übung rotierenden Stange darf nur diese insgesamt halbe Minute vergehen, von der sieben Sekunden tänzerisch überbrückt werden müssen. „Da ist eines der neun Jury-Mitglieder, die alle andere Aufgaben haben und nicht miteinander sprechen dürfen, mit seiner Stoppuhr ganz penibel“, sagt sie.
Genau festgelegt sind natürlich auch die Altersklassen bei Männern und Frauen, die bei deutschen Titelkämpfen und Weltmeisterschaften von Neunjährigen bis zur Altersklasse der über 50-Jährigen reicht. „Da habe ich dieses Jahr in Holland gute Chancen, ich bin topfit und austrainiert“, freut sich die zweimalige Weltmeisterin. „Yvonne hat die große Chance, Anfang Juli die älteste Weltmeisterin in der jüngsten Sportart zu werden“, verkündet ihr Mann und Manager Frank Hermes. Der 52-Jährige ist Präsident der vor zwei Jahren gegründeten Organisation des Deutschen Pole Sports (ODPS).
Kennengelernt hat sich das Paar, als von Pole-Sport noch keine Rede war. „Ich habe sie beim Einkaufen gesehen und war hin und weg“, erinnert er sich. „Aber den Pole-Virus, den hat Yvonne zuerst gehabt.“
Vor acht Jahren lag die sportliche Vergangenheit der vielfachen Deutschen Meisterin im Turnen schon 25 Jahre zurück. Als Aushängeschild ihrer Gilde war die zweimalige Berliner Sportlerin des Jahres, frustriert über die Bedingungen und die Chancenlosigkeit gegenüber der Konkurrenz aus den östlichen Staaten, kurz vor den Olympischen Spielen in Los Angeles zurückgetreten. Durch einen Fernsehbericht wurde sie auf ein Pole-Studio aufmerksam. „Ich habe mich zwar immer fit gehalten mit allen möglichen Sachen, Ballett, auch viel Yoga, oder bin mit meinen Hunden gelaufen am Schlachtensee, doch gearbeitet habe ich damals im Büro. Aber als ich die Stange sah, wusste ich: Das ist es.“ Durch den Pole-Sport habe sie auch das lange anhaltende Trauma aus der Turn-Vergangenheit weitgehend verarbeitet. Aber vergleichbar mit der Aerobic-Welle, die vor mehr als 30 Jahren ganz Europa überschwappte und Hunderte Studios und Vortänzerinnen ernährte, sei das auf keinen Fall. „Ich gebe Unterricht, auch Einzelstunden, freue mich über Einladungen zu Workshops im Ausland und habe auch einige Auftritte. Aber leben kann ich davon nicht. Der Auftritt als Solistin über mehr als zwei Jahre bei einer Show im Friedrichstadtpalast war die große Ausnahme.“
Viele junge Mädchen, die sich für Pole begeistern, springen wieder ab, wenn sie merken: Oha, das strengt ja an. Deswegen beherrschen derzeit meistens ehemalige Turnerinnen die Szene, die weltweit von der IPSF, der International Pole Sport Federation, wettkampfmäßig organisiert wird. Mit Dopingkontrollen und allem Drum und Dran. Vereine sind absolute Mangelware, obwohl sich kürzlich am Bodensee der erste in Deutschland gegründet hat. Aber: In Berlin bieten elf Studios den Sport an. Für die vergangene Weltmeisterschaft in London gab es mehr als 4 000 Anmeldungen und IOC-Präsident Thomas Bach steht nach ersten Gesprächen der Aufnahme ins olympische Programm durchaus positiv gegenüber, wenn der Sport in weiteren Ländern Fuß gefasst hat.
Einen weiteren Schub auf nationaler Ebene erhofft sich das Pärchen Haug/Hermes vom Deutschen Turnfest Anfang Juni in Berlin. Das Angebot der Veranstalter für eine eigene Halle konnten sie nicht ablehnen, die angebotenen Kurse sind jetzt schon ausgebucht. „Schwierig war es, die 15 Stangen zu organisieren. Ich hoffe, diese insgesamt fast zwei Tonnen wiegende Last kommt rechtzeitig aus Italien an“, sagt Frank Hermes über die benötigten Sportgeräte für das Spektakel in den Messehallen am Funkturm.
Manchmal bietet der neue Sport sogar Gelegenheit, alte Bekanntschaften aufzufrischen. Bei der WM in London fühlte sich Yvonne Haug plötzlich unsanft aus dem Tunnelblick zur Vorbereitung auf ihre Kür gerissen, als jemand hinter ihr zwar laut, aber doch ungläubig ihren Namen rief. Mit BBC-Reporterin Yvette Austin hatte sich die Berlinerin 32 Jahre zuvor bei den Turn-Europameisterschaften 1983 in Göteborg an den Geräten gemessen, und nun stand ihr die Britin als Kontrahentin an der Stange erneut gegenüber. Die Titelverteidigerin verzieh die Störung, und während der WM liefen die beiden als unzertrennliches Duo durch die Sporthalle.
Lydia Mendon