Ein großes Jubiläum fand zum Jahresanfang einen würdigen Rahmen. Vor 100 Jahren wurde in Berlin das erste Sechstagerennen gestartet.
Die Zuschauer im ausverkauften Velodrom wussten Mitte Januar gar nicht, was sie mehr feiern sollten. Die Jubiläumsauflage des Sechstagerennens, das vor 100 Jahren mit der Berliner Veranstaltung zum ersten Mal in Europa gestartet wurde. Oder ihren lokalen Matador Erik Zabel, der vom 22. bis 27. Januar allabendlich seine letzten Runden als Berufsradfahrer drehte und schon lange vor der Glocke als Sieger der Herzen gefeiert wurde. Dass der Ur-Berliner Zabel letztlich nach den sechs Jagden wirklich als Triumphator über die Ziellinie fuhr, hatte der Sprinterkönig der vergangenen zwei Jahrzehnte auch seinem Potsdamer Partner Robert Bartko zu verdanken.
Gehetzt wurde das Traumpaar der Zuschauer von den jüngeren Zweier-Mannschaften, die den beiden Mittdreißigern die Ehrenrunde keinesfalls schenken wollten. So hätte es die Dramaturgie nicht besser inszenieren können: Erst mit dem letzten Spurt gewannen die beiden Vollprofis nach einer Punktewertung vor den Schweizern Bruno Risi und Franco Marvulli sowie dem Eisenhütterstädter Roger Kluge und dessen belgischem Partner Kenny de Ketele. „Einmal noch gegen Erik Zabel zu fahren – da ist für mich ein Traum in Erfüllung gegangen. Gern hätte ich ihn auch geschlagen. Aber der Ete hat noch einmal seine ganze Klasse ausgespielt“, sagte der 22 Jahre alte Brandenburger.
Kurz danach verblüffte Zabel, Held vieler Spurt-Entscheidungen bei der Tour de France und zeitweise so etwas wie der „Pächter“ des grünen Trikots für den Fahrer mit den schnellsten Beinen im Peloton, seinen knapp unterlegenen Rivalen. „Der Roger soll sich mal nicht zu sehr ins gemachte Nest auf der Bahn setzen. Ich habe schon ein Auge auf ihn geworfen. Wir werden uns in Zukunft sicher schwer um ihn bemühen“, sagte der 38-Jährige. Kluge wurde zuerst hellhörig – dann sprachlos. Denn Zabel, sein großes Vorbild in puncto Spurtstärke, wird auch nach dem Abschied vom Rennsattel eine wichtige Rolle im Radsport spielen. Der Familienvater arbeitet ab sofort als Berater für das Profi-Team Columbia und will den Eisenhüttenstädter zum finanziell gut ausstaffierten Stall in die USA locken. „Wir werden ihn 2010 in unser Aufgebot holen“, konkretisierte Zabel noch vor Arbeitsbeginn seine erste Amtshandlung für den künftigen Brötchengeber.
So fand das Sechstagerennen nach dem Startschuss von Schwimm-Wunder Britta Steffen aus Schwedt und der Ankündigung, Berlin werde sich mit seinem begeisterten Radsport-Publikum für die Bahn-Weltmeisterschaft im Jahr 2012 bewerben, nach dem letzten Spurt noch eine Fortsetzung. Robert Bartko und Erik Zabel, die in den vergangenen Jahren durchaus keine dicken Freunde, aber immer Rivalen mit großer Achtung für einander waren, drehten ihre Ehrenrunden. Und der junge Roger Kluge blickte mit verklärtem Lächeln in eine Zukunft, die er mit seinen schnellen Beinen selbst als goldene gestalten kann.
Die fachkundigen Berliner Fans hatten allen Grund zum Feiern, auch wenn das Prozedere der Sixdays 100 Jahre nach der Taufe ein völlig anderes ist als zur Geburtsstunde. „So etwas wie damals hätte ich nicht ausgehalten. Da wäre ich vom Rad gefallen“, erklärt der schon bei 23 Sechstagerennen erfolgreiche Schweizer Franco Marvulli, der ein Jahr zuvor in Berlin sogar mit gerissenem Kreuzband triumphiert hatte. Die Erstauflage nämlich, beeinflusst von den Ursprüngen im New Yorker Madison Square Garden, ging in den Ausstellungshallen am Berliner Zoologischen Garten tatsächlich über 145 Stunden. Einer der Fahrer hatte sich stets auf der Bahn aufzuhalten, nur der Partner durfte schlafen, essen, sich waschen und was sonst noch zu den täglichen Bedürfnissen auch eines Radprofis gehört.
Die Berufsfahrer jener Zeit waren die Helden des Publikums und wollten sich natürlich auch nicht von anderen Sachen ablenken lassen. So musste die erste deutsche Auflage der Sixdays vom 15. bis 21. März ohne den deutschen Star Walter Rütt über die Bühne gehen, der zwei Jahre zuvor mit dem Holländer John Stol das Rennen in New York gewonnen hatte. Der gute Rütt hatte wegen der vielen Rad-Termine seinen Dienst beim Militär geschwänzt und traute sich deswegen aus seiner Wahlheimat Paris nicht mehr nach Deutschland. Die Rückkehr des Lokalmatadoren veranlasste kein Geringerer als Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen. Der war bei seinem Besuch des Sechstagerennens so begeistert, dass er sich lange mit den damaligen Rennfahrern unterhielt und sogar anfreundete. Der Kronprinz legte schließlich auch ein gutes Wort für Walter Rütt ein und lotste ihn zurück in die Heimat. Der bedankte sich auf seine Weise und gewann die folgenden vier Sechstagerennen.
Die Veranstaltungen waren zu allen Zeiten neben dem sportlichen auch der gesellschaftliche Höhepunkt in Berlin. Wer etwas auf sich hielt, kam zum Sechstagerennen. Und so genießt auch heute neben den Rundenjagden der Profis das Rahmenprogramm einen hohen Stellenwert. Dabei sind die Voraussetzungen ideal, seit die Sixdays 1997 für Berlin im Velodrom wiederbelebt wurden. Damals noch fast im Rohbau als Überbleibsel der gescheiterten Olympiabewerbung der deutschen Hauptstadt hat, sich die Arena an der Landsberger Allee zum Mekka der deutschen Bahnrad-Fans gemausert. Dass in solchem Fall nach 100 Jahren noch lange nicht Schluss ist, versteht sich von selbst. Das Rennen für den Januar des Jahres 2010 steht für viele Radsportfreunde schon längst im Kalender.
Hans-Christian Moritz