Umlenken

Berlin arbeitet an neuen Verkehrskonzepten und macht sich auf, Fahrradstadt zu werden. Jeden Morgen ziehen die Karawanen los. Die einen hasten mit dem Autoschlüssel in der Hand zum Parkplatz, um sich in das morgendliche Verkehrsdilemma zu stürzen. In Bus und Bahn drängeln sich die Frühaufsteher. Andere schultern ihre Rucksäcke und radeln an Autoschlangen vorbei auf dem Weg zu Arbeit, Schule oder Uni. Es gibt wohl kaum eine Begegnung, bei der nicht geschimpft wird, aus wechselnden Perspektiven. Die Schlacht auf der Straße hat  Unterhaltungswert. „Guck mal in den Spiejel!“ Stinkefinger. Hupe. „Nich pennen!“ – In Berlin herrscht kein Mangel an Verbalattacken und Spontanpantomimen.

Immer wieder kommt es aber auch zu schrecklichen Unfällen, wenn z. B. Rechtsabbieger die Radspur übersehen,  wenn das Rot der Ampel für Radler nur fakultativ wahrgenommen wird. Ein Bestandteil  des Berliner Radgesetzes (RadG) ist das Konzept „Vision Zero“. Es beinhaltet,  Straßen und Verkehrsmittel so sicher zu gestalten, dass keine Verkehrstoten und Schwerverletzten mehr auftreten. 

Was kann man also tun, um Berlins Straßen angenehmer und für alle Verkehrsteilnehmer sicherer zu machen? Mit dem Fahrrad-Rahmengesetzentwurf als Grundlage für Deutschlands erstes Fahrradgesetz sind Aufgaben und Ziele  formuliert. Die Initiative „Volksentscheid Fahrrad“ mit Heinrich Strößenreuther als Initiator, engagiert sich für einen sicheren Berliner Radverkehr. Fahrradstadt Berlin war zunächst ein Slogan, der die Alternative zum Auto unter dem Aspekt der ökologischen und lebbaren Stadt betonte. Jetzt geht es aber um ein ganzheitliches, auch den öffentlichen Verkehr einzubeziehendes  Konzept.  Radstrukturen und Nahverkehr müssen aufeinander abgestimmt werden, wenn der Autoboom reduziert werden soll. Die Fahrradstadt ist dabei ein wichtiges Teilstück des Verkehrskuchens und mit dem Berliner Radgesetz, das noch durch die politischen Instanzen muss,  wären die wichtigsten Punkte erfüllt (Infokasten).

Die Realität derzeit sieht in etwa so aus: Los geht es im Prenzlauer Berg. Auf der Schönhauser Allee hinunter Richtung Torstraße drängen sich alle Radfahrer auf einem schmalen, markierten Streifen, der dem Bürgersteig abgetrotzt ist. Eine ganze Kolonne von unterschiedlich geübten, ambitionierten und ausgestatteten Radlern ist unterwegs. Die Eiligen wagen riskante Überholmanöver. Ein langes Warten an der Torstraßenkreuzung. Dreißig Fahrer  bilden eine Schlange. Die einen sportlich, andere im wehenden Kleid oder im dunkelblauen Anzug  nebst – ja, gibt es noch! – Krawatte. Ein buntes Sommerbild. Berlin ist schön! Immer wieder Rennräder  mit Millimeterreifen neben Citybikes, Klapprädern, Lastenrädern, Holländern. 

Ruhiger geht es weiter auf der Linienstraße in Mitte, eine der ersten Fahrradstraßen Berlins. Nicht alle Autofahrer haben das verstanden. Es fährt sich dennoch angenehm  bis auf den Moment, in dem  ein Voranradelnder die Bremse zieht. Als Nachfolgender kann man derart abrupte Manöver meist nur mit Akrobatik oder wilden Schlenkern parieren. Unter den Linden wird es erneut ob der Dauerbaustelle ungemütlich. Eine stoische Gemütslage ist ebenso hilfreich wie Spürsinn. Aufatmen im Tiergarten. Als Radfahrer wurde man bis dahin mit einer Fülle von Eindrücken, Adrenalinschüben, einem imaginären Zugehörigkeitsgefühl und Entdeckerfreude (Welches Café hat geschlossen, neu eröffnet ...) belohnt und kommt vielleicht etwas außer Puste am Kurfürstendamm an. Dort aber trägt man am besten sein Rad unterm Arm und vergisst das Thema Fahrradstadt Berlin.  

Nun soll sie kommen. Vorboten können z. B. am Gleisdreieck beradelt werden. Eine der Visionen mit 140 Seiten Machbarkeitsstudie ist die Radbahn unter der U1, ein überdachter Fahrradfernweg, ein Novum,  der die Warschauer Brücke und den Bahnhof Zoo verbinden soll samt Uferpromenade und Ausguckplatz an der Möckernbrücke in Kreuzberg. Es geht darum, das Konzept der Sechziger-Jahre-Autostadt, das Hermetische,  aufzubrechen. Vorbilder gibt es in Kopenhagen, Amsterdam oder in Münster. Zu den Visionären von  räumlicher Eleganz gehört der britische Architekt Sir Norman Foster, der für London einen transparent gleißenden „Skycycle“ entworfen hat. Auch ein schwimmender Radweg auf der Themse wurde diskutiert. Radwege in der Höhe. Radwege, die nachts farbig leuchten. Das Studio Roosegaarde (NL) hat einen in der Dunkelheit schimmernden Fahrradweg kreiert. Eine spezielle Farbe sowie LED-Lampen mit Solarzellen erleuchten mit unzähligen Pünktchen den Weg. Visionen.  

Der Zankapfel beim Thema Fahrradnetz ist der Raumbedarf. Ein Feld der Politik. Es  müssen Flächen umverteilt werden, dabei so der „Fahr Rat“, eine den Berliner Senat beratende Institution, stünden nicht Fußwege, sondern Fahr- oder Parkspuren zur Disposition.  Der Autoverkehr beansprucht in Berlin 58 Prozent der Flächen, für die Fahrräder sind derzeit etwa drei Prozent reserviert. 350 Kilometer Fahrradstraßen auf Nebenstrecken und mindestens zwei Meter breite Fahrradstraßen sollen das Rückgrat des neuen Radfahrnetzes bilden. Die Qualitätsfrage ist damit noch nicht tangiert, die Frage nach Sicherheit durch Borde, Pflanzen, Kreuzungseinführung, oder Ampelschaltung. Neben der Sanierung und dem Neubau von 47 Kiezradwegen noch in diesem Jahr für insgesamt 20 Mio. Euro, so Verkehrssenatorin Regine Günther, sind Radschnellwege ein Hauptthema. Der „Fahrradhighway“ ist ein Qualitätssprung im Konzept der Fahrradstadt. Die Vorplanungen „liefen auf Hochtouren, um schon bis zum Ende 2017 mit dem Ausbau von vier Radschnellwegen starten zu können“, erklärt Verkehrs-Staatssekretär Jens-Holger Kirchner von den Grünen.   Dreißig sogenannte Trassenkorridore für Radschnellverbindungen (RSV) mit 30-km/h-Geschwindigkeit  wurden untersucht. Zwölf sind in die engere Auswahl gekommen.  Vom Flughafen Tegel  nach Charlottenburg soll es künftig zügig gehen. Ebenso von der Berliner Straße in Pankow  Richtung Schönhauser Allee. Die U1-Piste dagegen sei laut einer Studie der TU Berlin weniger als Schnell-piste denn als Flaniermeile für Radler geeignet. 

Die Generation Fahrrad braucht kein Auto mehr als Statussymbol, sagt Robert Burkhardt, PR-Chef von Velokonzept, einer Marketingfirma, die Unternehmen und den Senat berät. Es ginge viel mehr „um nutzen als besitzen“. Das drücke sich auch in den Sharing-Programmen aus. „Ein Trend, den es vor zehn Jahren nicht gab.“ Der Senat ermittelt mit Fahrradzählstellen den Radverkehr. Im vorigen Jahr haben 16500 Radler täglich die Innenstadt passiert und im ganzen Jahr 2,6 Millionen allein die Oberbaumbrücke. Mit dem E-Bike würden sich noch mehr Menschen das Radfahren erschließen, sagt Robert Burkhardt. Berlin will bis 2025 jährlich mindestens fünfzig Kilometer neue Fahrradstraßen schaffen, ein wachsendes Netz, das Kindern, älteren Menschen und Schnellfahrern gleichermaßen urbanes Radfahren ermöglichen soll.

Anita Wünschmann

 

71 - Sommer 2017
Stadt