Man müsste so viel lesen. Aber was?
Susann Sitzler hat sich schon mal durch die aktuellen Neuerscheinungen gewühlt. Hier ihre Empfehlungen.
LEBEN IN TRANCE
Etwas stimmt nicht mit Rose Bowan. Mitten am Tag kribbelt ihre Haut, schieben sich merkwürdige Formen vor ihre Augen – und dann ist sie auf einmal nicht mehr kurzsichtig. In einer Art Trance erlebt sie Szenen aus dem Leben einer anderen Frau: Ist hautnah dabei, wie diese Auto fährt, ihren Liebhaber trifft, an einer Party teilnimmt. Nach kurzer Zeit sind die Episoden verflogen. Doch sie lenken Rose mehr und mehr von ihrem Alltag ab. Darin betreibt sie mit ihrer dementen Mutter ein kleines Programmkino und pflegt ein Verhältnis mit einem Mann, der auf Wettervorhersagen fixiert ist.
Die kanadische Schriftstellerin Barbara Gowdy ist Meisterin darin, ihre Figuren auf Augenhöhe zu zeichnen und intensive Stimmungen zu erzeugen. Auch ihr neuer Roman „Kleine Schwester“ lebt von dieser Magie. Nach und nach fügen sich für die Leser und für Rose selbst die Mosaiksteine beider Wirklichkeiten zusammen. Denn die Frau, in deren Alltag sie sich so oft und unerwartet wiederfindet, gibt es wirklich – und sie lebt in der gleichen Stadt.
Information
Barbara Gowdy: „Kleine Schwester“.
Kunstmann, 240 Seiten, 22 Euro.
TOD NACH STERNZEICHEN
Als Berliner müssen wir nicht weit fah-ren, um die Ruinen eines ehemaligen Freizeitparks zu finden. Doch der Berliner Autor Jonas Winner hat seinen neuen Thriller „Murder Park“ über den Atlantik verlegt – auf eine kleine Insel vor New York, wo in den Neunzigerjahren ein Themenpark namens „Zodiac Island“ lag. Der Vergnügungspark mit dem Thema „Sternzeichen“ war schon heruntergekommen, als dort ein Serienkiller alleinerziehenden Müttern auflauerte, um drei von ihnen zu meucheln. Zwanzig Jahre später soll der Park nun pompös wiedereröffnet werden: mit dem Thema „Serienkiller“. Vorab getestet von einer Gruppe Journalisten, von denen jeder ein anderes Sternzeichen hat. Doch das wird den Beteiligten erst klar, als die ersten von ihnen auf unerklärliche Weise verschwunden sind ...
Spätestens seit seinem Erfolgt mit „Die Zelle“ gilt Jonas Winner als Spezialist für elegant erzählte, abgründige Thriller mit philosophischer Note. „Murder Park“ fesselt mit starken Bildern und tiefenscharfen Figuren, die so glaubwürdig sind, dass man bis zuletzt nicht weiß, wem man wirklich trauen kann.
Information
Jonas Winner: „Murder Park“, Heyne, 416 Seiten, 12,99 Euro.
DIE STUMME SEELE ITALIENS
Heute war fast jeder schon mal in Italien. Im 19. Jahrhundert war das Land exotisch. Wer es erblicken wollte, war auf Fotografien angewiesen. Gleich vier Funde aus der Frühzeit der Fotografie versammelt der Bildband „Venedig – Florenz – Neapel.“: Im Zentrum stehen Bilder, die ein unbekannter deutscher Reisender im Jahr 1877 auf einer Italienreise gemacht hat. Ergänzt werden sie mit Aufnahmen lokaler Fotostudios der Zeit, die ihre Städte und deren Sehenswürdigkeiten dokumentierten.
Der Bildband zeigt die Fotos originalgetreu vergilbt und angeordnet wie in einem alten Album. Sie wirken still wie ein Stummfilm – und dadurch atemberaubend. Sie zeigen die Ruhe einer Welt, in der noch nicht so viele Menschen leben wie in unserer, und in der es noch kaum Touristen gibt. Heute können wir Italien selbst angucken. Doch nie wieder werden wir den Markusplatz auf die Weise menschenleer sehen, wie ihn diese Fotos zeigen. Erinnerung an eine Welt, der noch nicht die Seele herausfotografiert wurde.
Information
Felix Thürlemann (Hg.): „Venedig – Florenz – Italien:
Ein fotografisches Reisealbum 1877.“,
mit einem Essay von Bernd Stiegler.
Weissbooks, 180 Seiten, 34 Euro.
AUF DER LESEGALEERE
Ein ganzer Sommer und keine Pläne. In dieser Situation fand sich der Schriftsteller Matthias Zschokke vor einem Jahr. Weil der gebürtige Schweizer einerseits ein Feingeist ist, andererseits aber auch gerne klagt, nahm er sich ein Monsterprojekt vor: Er wollte Marcel Prousts Klassiker „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ lesen, weil das irgendwie zur Bildung eines Romanschriftstellers gehört, der er ja selbst auch ist. Fünftausend Seiten in dreizehn Bänden ackerte er durch.
In „Ein Sommer mit Proust“ begleitet man Zschokke auf die „Lesegaleere“. In Briefen an Freunde und Kollegen berichtet er von seinen Lektüreeindrücken. „Sehr, sehr viele Wörter“, konstatiert er schon nach wenigen Seiten. „Mir würden weniger oft besser gefallen.“ Doch er bleibt sportlich bemüht, der verästelten, detailreichen Handlung zu folgen, die vom Aufstieg eines Ehrgeizigen in die französischen Oberklasse erzählt. „Ein entsetzliches Buch mit herrlichen Passagen“, lautet sein Fazit. Für ein „Ein Sommer mit Proust“ gilt davon nur der zweite Teil.
Information
Matthias Zschokke:
„Ein Sommer mit Proust“,
Wallstein, 64 Seiten, 12,90 Euro.