Stühle sind die Favoriten für Design-statements. An Stühlen haben sich alle Designer, möchte man meinen, abgearbeitet und etliche der schicken Sitzmöbel behaupten sich bis heute erfolgreich, auch Sessel, Sofas, Hocker, und natürlich Lampen und seit ein paar Jahren eben auch Bücherregale. Beim Thema Schrank kommt Verlegenheit auf. Diese breitschultrigen Monstren, die mit dem Kram auch ganze Räume verschlucken oder in der üblichen Sechzig-Zentimeter- Tiefe hinter der Tür ihr Leben fristen, sind, so scheint es, nur insofern ein Thema, als es um ihr Verschwinden geht. Der Schrank, bitte schön, soll sich in Luft auflösen, jene Luft, die per Raumgewinn zum Atmen und für das Freiheitsgefühl so nötig ist. Wer braucht schon so viel Kram? Sei dieser nun Kleiderzeugs oder jene Utensilien, die sich neben Tassen und Tellern breit machen und Fotokis-ten haben sich mit DER WOLKE, will man den Trendprognosen mehr als einer beharrlich parallelen Alltagspraxis glauben, auch überlebt.
Das Erbgut
Schöne Schränke, die von Tischlern gefertigt wurden, aristokratische wie bäuerliche, die Jahrhunderte auf dem Buckel haben und die aufrecht und mit leichtem Knarzen bis heute jedwedem Besitzer und Besucher ins Gesicht schauen, wissen, was Leben bedeutet und in welchem Wechsel Bürde und Freude zueinander stehen. Sie erlebten, wie ihre eigene hölzerne Begrenzung durch ein maßloses Hineinstopfen herausgefordert und genossen die Erleichterung, wenn ausgemistet wurde. Diese Schränke haben in ihrer eigenen stillen Art den Abschiedsschmerz von geliebten Dingen verarbeitet und sich auf die jeweils anderen Generationen eingestellt. Sie passen heute ob ihrer Dimension in die wenigsten Wohnungen.
Schränke können Geschichten erzählen. Schlafzimmerschränke waren nicht selten das Versteck in der Not. Das Hinterzimmer für den Liebhaber. Barocke Dielenschränke oder Kabinettmöbel vermitteln bis heute eine Schönheit aus Material und Handwerk. Sie vermögen Ruhe zu geben. Allerdings setzt das eine gewisse Raumgröße und Konzentration auf Wesentliches voraus. Es ist also die Rede vom Erbgut der Möbelgeschichte, die mit dem Biedermeier im 19. Jahrhundert und der Wertschätzung bürgerlicher Privatheit einen ers-ten Höhepunkt hatte. Biedermeierschränke, meist schmaler als ihre Vorfahren, waren schlicht, praktisch und edel. Sie repräsentierten eine distinguierte Gesinnung und gelten als zeitlos schön. Ganz im Gegensatz zur Gründerzeit mit ihren verdrucksten Säulchen und Aufbauten.
Zeichen des Aufbruchs
In der bürgerlich urbanen Phase des Art nouveau und Art déco erreichte der Schrank erneut repräsentative Funktion mit einer kühlen Eleganz in exzellenter Verarbeitung für Wohnungen, die als Gesamtkunstwerk verfeinerten Geschmack signalisierten. Besonders schöne Exemplare kommen von Henry van de Velde (1863–1957) oder aus den Wiener Werkstätten mit Koloman Moser (1868–1918). Von dem gebürtigen Belgier van de Velde, Mitbegründer des Deutschen Werkbundes, ist der Satz überliefert: „Ich will Kunst, will Form, Harmonie, Linie. Staub ist mir ganz egal.“ Wogegen der Ornamentkritiker Adolf Loos (1870–1933) dem kunstgewerblich Gemachten nichts mehr abgewinnen konnte und sich für einen neuen Geist, das Material als Ausdrucksträger, einsetzte. Die feine manufakturelle Schreinerkunst kon-nte keinen Massenbedarf bedienen weder mengen- noch kostenmäßig. Industriell gefertigte Möbel für die Werktätigen, die obendrein ästhetisch erzieherisch wirken sollten, standen auf der Tagesordnung. Die Werkstätten Hellerau gelten als die Vordenker von Ikeas designten Selbstmontagemöbeln und entwickelten mit dem Münchner Architekten Richard Riemerschmid ab 1903 aus der Logik industrieller Technologie „Maschinenmöbel“. Die Firma Hellerau kreierte Themen wie „Die billige Wohnung“ (ab 1926) und ließ Schränke aus Pressspanplatten entwickeln. Der Trend ging in Richtung standardisierter vorgefertigter Teile und leichter Montage. Mit dem Bauhaus wurde das ganze Raumprogramm neu gedacht: fließende Grundrisse und die dazu geeigneten Möblierungen. Mies van der Rohe oder Walter Gropius zeigten den Weg auf: weg von der Garnitur samt Anrichte, Bücherschrank usw. hin zum Modul, zur freien, flexibleren Kombination, vom Möbel, das Raum beansprucht zum Stauraum, der als Bestandteil der Architektur gedacht ist. Ungeachtet dessen schufen auch Bauhäusler kastenförmige Einzelschränke, welche die Idee des funktionalen Kubus mal in Holz-optik, mal mit Farblackierungen, zumeist auf Metallkufen, sinnfällig machten. Für die Weissenhofsiedlung entwarfen Le Corbusier und Pierre Jeanneret 1927 sehr rationale Möbel aus Beton, aus denen der Benutzer auch sein Bett herausklappen und später wieder verschwinden lassen konnte. Und noch einmal die Hellerauer. In den Endfünfzigern entwickelte der einstige Bauhausschüler Franz Ehrlich für das Themenprogramm „Die wachsende Wohnung“ die generationsprägende S602. Mit diesem Code wurden helle, eschefurnierte Möbel, Schreibtische, Schränke und Flachteile auf konischen Stelzbeinen bezeichnet, die in Kleinserien gefertigt wurden. Mit den „kombinierbaren Einzelmöbeln“ sollten die Wohnzimmer zu lichten freundlichen und zweckdienlichen Räumen werden für Menschen, die eine neue Gemütlichkeit und (geistige) Arbeit, Kinder und Beruf verbinden wollten und mussten.
Midcentury und begehbarer Schrank, modul und solitär
Ebenso wie in Tschechien hergestellte Midcentury-Möbel, z. B. von der Firma Jitona, feiert die S602 ein Comeback, gemeinsam mit den als Trendsetter geltenden Skandinaviern. Einstige Serienmöbel werden heute als solitäre Vintage-Hingucker inszeniert, derweil der größere Bedarf an Stauraum möglichst mit einem begehbaren Schrank oder Wandschränken samt Gleittüren, optisch unsichtbar gemacht wird. Für das Verschwinden des Schrankes ist nicht nur die Nische in Wohnungsgrundrissen vorgesehen. Zudem werden wandkompatible Farb- und Furnierfronten angeboten und illusionistische Mittel wie Großfotos, Tapeten oder Spiegel eingesetzt. Im Luxussegment hat Karim Raschid etwa mit „Blend“ ein Korpusmöbel geschaffen, das eine optisch schwingende Wand suggerieren soll. Es ist ebenso präsent wie es seine profane Funktion kaschiert. Das Schranksystem Pax von Ikea galt neben seinen Premiumschwestern und Montagemöbelanbietern als Statthalter der letzten Jahrzehnte und liefert ein perfektes, offenbar universelles Ordnungssystem.
Modul oder Einzelmöbel. Zwei Denk-richtungen bestimmen das unübersehbar vielfältige Schrankmöbelangebot. Schränke sind heute vor allem Systemmöbel, deren Einzelbestandteile, Schübe, Einlegeböden, Kleiderstangen und Türen, deren Oberflächen und Maße bis hin zu Griffen zunehmend individuell kombinierbar sind. Andererseits geht es um das besondere Einzelmöbel. Ein Schrank ist eben nicht nur ein Schrank, sondern neben seiner Funktion, die verschiedensten Dinge zu beherbergen – toll übrigens immer wieder Apotheker- und Sammlerschränke – auch ein Statement, ein Objekt der Begierde, Zufallsfund oder Erbstück. Das Verschwinden des Schrankes als breitschultriger Raumfresser geht einher mit der Entdeckung des Einzelmöbels.
Spätestens mit dem italienischen Memphis-Design der Achtziger, mit seiner schrillen Buntheit, mit Glamour und eklektizistischer Attitüde rückte der solitäre Schrank wieder ins Blickfeld und feuert seitdem die Phantasie von Gestaltern und Benutzern an. Das Midcentury ebenso wie Moderneklassiker und Industriemöbel liefern eine Fundgrube für Reeditionen, Zitate und Interpretationen. Aldo van de Nieuwelaars säulenartige und farbenfrohe Rolltürenschränke gehören dazu oder der vom Designerduo byKato entworfene S3 Kabinettschrank auf hohen schwarzen Beinen mit mehrfarbigen Türen und Schüben. Aus einer anderen Tradition schöpfte das Designteam Studio Job und entwickelte den „Fränkischen Schrank“, eine Art Bauernschrank aus Papier für Urbanisten. Ganz im Gegensatz zur Eingangsbehauptung von der Verlegenheit der Designer beim Thema Schrank, wird in alle Richtungen gedacht und experimentiert: Materialinnovationen, ökologische Herstellungsweisen, altneue Verbindungstechniken und Veredelungspraktiken. Die Zukunft macht sich mit ersten Protagonisten bemerkbar: Es sind Schränke aus dem Drucker (Kanada) und Roboterschränke, die zugleich die Wäsche reinigen und nett wieder einsortieren (Japan). Zuvor aber werden Systemmöbel älteren Datums gern auch zersägt, neu gefügt, gestrichen und variiert, bis aus dem einstigen Serienprodukt ein individuelles (skulptural-architektonisches) Möbel entsteht. Upcycling als ressourcenschonende Verfremdungstechnik ist auch hier eine Erfolgsformel. Das Material: alte und neue Hölzer, Metall, Kunststoffe, satiniertes Glas, Beton, matte und glänzende Anstriche vor allem Sperrholz und MDF. Für den freundlichen Kiefernschrank, er grüßt aus den Neunzigern herüber und hat es ob seines Mangels an Raffinesse gerade nicht leicht, steht zumeist schon der Farbeimer bereit.
Anita Wünschmann