Der Deutsche Schwimmsport leidet unter Mangel an Nachwuchs. Die nationale Spitze ist im Wettbewerb kaum noch konkurrenzfähig. Zum Teil sind die Probleme hausgemacht.
Schon wieder Silber! Dara Torres weiß nicht, ob sie sich freuen oder ärgern soll. Um die Winzigkeit von einer Hundertstelsekunde verlor die Amerikanerin die olympische Goldmedaille über 50 Meter Freistil gegen die aus Schwedt an der Oder stammende Britta Steffen. Sie strahlt zur schwarz-rot-goldenen Fahne. Siegerehrung, ein wunderbarer Moment für die Sportlerinnen. Ein fast historischer. Denn seit dieser Zeremonie am 17. August 2008 erklang während Olympischer Spiele für keinen Sportler aus dem Deutschen Schwimm-Verband mehr die Nationalhymne. Bei den folgenden Spielen 2012 in London sowie vier Jahre später in Rio de Janeiro holten die deutschen Athleten nicht eine einzige Medaille aus dem Becken. „Das Gleiche ist 2020 in Tokio zu befürchten. Uns bricht die Basis weg. Der Leis-tungssport geht den Bach runter“, klagt Beate Ludewig. Die Bundestrainerin der Junioren stemmt sich Tag für Tag gegen den Rückwärtstrend, predigt inzwischen gebetsmühlenartig gegen die Verkrus-tungen im Verband, gegen falsche Vergabe von Schwimmhallen und andere Missstände, die die nationale Spitze im Wettbewerb mit der Konkurrenz immer weiter zurückfallen lassen.
Am Beckenrand in Berlins größter Schwimmhalle an der Landsberger Allee erlebt die Trainerin tagtäglich, wie es mit dem Schwimmsport abwärts geht. Sie kämpft um Trainerstellen, gerechtere Bezahlung der Übungsleiter und vor allem um Bedingungen, die den Leistungssport nicht karikieren. „Wir haben in Berlin 70 Vereine, in denen geschwommen wird. Aber es gibt nur 27 Schwimmhallen. Schon allein das ist bei einer Stadt von fast vier Millionen Einwohnern und einem gewaltigen Ballungsraum nahezu ohne eigene Schwimmhallen eine extreme Unterversorgung. Nur wer bei der Vergabe der Hallenzeiten am lautesten ruft, der schwimmt zuerst.“ Kostenlose Hallenzeiten in der Hauptstadt werden von den Bäderbetrieben über die regionalen Beiräte vergeben.
„Das war schon immer so“, lautet das Totschlag-Argument. „Wir wollen aber nicht nur meckern“, sagt Beate Ludewig und präsentiert mit ihrem Trainer Martin Dautz Vorschläge. „Am besten wäre es, wenn der Berliner Schwimmverband die Hoheit über die Vergabe der Hallenzeiten bekommen würde. Dann brauchten sich die Kaderathleten die Bahnen nicht mehr mit Freizeitschwimmern zu teilen.“ Aber nach Meinung der Verantwortlichen, die bei einem erneuten Versagen der Schwimmer bei den nächsten Olympischen Spielen in Tokio den Kopf hinhalten müssen, hat der hauptstädtische Verband kein Interesse an dieser Variante. „Da müssten die Strukturen geändert werden, schließlich muss man dann konzeptionell denken“, sagt die Bundestrainerin. Bestätigt wird sie durch Stefan Jensen vom KSV Neptun Berlin von 1889 e.V. „Die Verbandsführung besticht seit Jahren weder durch fachliche Neuausrichtung, noch besitzt sie durchsetzungsstarke Macher. Der Verband sollte verstanden haben, dass es fünf nach zwölf ist. Und wenn nicht, dann gilt das folgende Sprichwort umso mehr: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit!“ Nach seiner Aussage ist die Führungsriege, vertreten durch den Berliner Verbandspräsident Axel Bender und Geschäftsführer Manuel Kopitz zum wiederholten Male gar nicht erst bei den Deutschen Jahrgangsmeisterschaften erschienen.
Die Förderung begabter Jugendlicher in Richtung Leistungssport findet in vielen Berliner Schwimmvereinen gar nicht erst statt. „Die meisten wollen nur planschen“, sagt Stefan Jensen und nennt auch Zahlen. „Von den 70 Vereinen zeigen nur gut 15 mehr oder weniger Interesse an einer zielgerichteten Arbeit. Eine sinnvoll nach Alter und Leistungsvermögen strukturierte Ausbildung wird lediglich von sechs Vereinen umgesetzt.“ Das Ergebnis dieses zum Badebetrieb verkommenden Vereinswesens ist die bröckelnde Spitze der Pyramide, die den Leistungssport darstellen soll. Vor 25 Jahren wurden 80 Schwimmer an den Sportschulen eingeschult. Mit dem Jahrgang 2004 wurde letztmalig zum Schuljahr 2014/2015 eine volle Klasse mit mehr als 20 Schwimmtalenten aufgenommen. Von den 2006 geborenen sind es gerade mal 13 Kinder in der Sportklasse.
„Ich verstehe nicht, warum uns nicht mehr Unterstützung entgegengebracht wird“, fragt sich Beate Ludewig. Schließlich sind Übungsleiter im Sport die besten Sozialarbeiter. Der Sport holt Kinder von der Straße. Den Verweis auf die vielen Ehrenamtlichen wischt Beate Ludewig vom Tisch. „Das ist alles Quatsch. Wir reden über Leistungssport. Da hat das Ehrenamt nichts zu suchen, da müssen professionelle Trainer arbeiten“, sagt sie. Ideen gibt es genug. Eine davon ist die Förderung durch die Wirtschaft. Warum geben renommierte und angesehene Unternehmen Unsummen aus für Fußballklubs, die sie an ihre angestellten Profis als teilweise utopische Gehälter weiterreichen? Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen könnte einspringen, statt die Hälfte seiner gigantischen Werbeeinnahmen für Zweit-Übertragungsrechte der Fußball-Bundesliga auszugeben. Die ARD zahlt 134 Millionen Euro für ihre Erstausstrahlungsrechte im öffentlichen Rundfunk für die Saison 2017/2018, was einer Steigerung von 34 Millionen gegenüber der abgelaufenen Saison bedeutet. Zusätzlich zahlt das ZDF nochmals 45 Millionen für die kommende Saison. „Wenn ich irgendwann nur noch Fußball in den Medien finde, dann müssen wir uns nicht mehr wundern, dass unser Sportwesen zu einer Monokultur verkommt“, bedauert Stefan Jensen.
Was ist mit dem Berliner Senat, der die Kultur in der Stadt mit einem Vielfachen dessen fördert, was er dem Sport, vor allem im Jugendbereich, zugutekommen lässt? Martin Dautz arbeitete mit einem Kollegen ein dezentrales Ausbildungskonzept aus, das längst hätte an den Start gehen müssen. Darin sind Trainingsinhalte festgelegt wie der rechtzeitige Wechsel von Talenten in die Leistungszentren. Den verantwortlichen Stellen im Berliner Verband liegt das Konzept vor. Schon lange. „Wir können doch deswegen nicht aufgeben“, erklärt Jensen und nennt ein Beispiel aus seinem KSV Neptun. Der Verein setzt sich das hohe Ziel, jährlich zwei Kinder für die Einschulung zur 5. Klasse an der Sportschule zu empfehlen, was zehn Prozent der zu besetzenden Plätze entspricht. „Seit dem Schuljahrgang 2002 ist uns das als mittelgroßer, reiner Schwimmverein auch gelungen. Allein im Jahrgang 2004 stellen wir mit fünf Kindern gut ein Viertel der Klasse“, erzählt er.
„Wir müssen die Kinder begeistern, schließlich ist Schwimmen die Sportart, die die meisten Deutschen selbst betreiben“, bricht Beate Ludewig eine weitere Lanze für eine der beiden olympischen Kernsportarten. Doch leider sind die Zeiten vorbei, als auch Politiker die Kinder zum Schwimmenlernen aufforderten, um später nicht im Baggersee unterzugehen. Mehr als die Hälfte der Kinder in Berlin und Brandenburg kann sich bei der Einschulung nicht über Wasser halten, und in der Hauptstadt erwog man, den Schwimmunterricht an den Schulen einzustellen. Wie immer jagen die Politiker und Verantwortlichen Luftschlössern nach mit dem Plan, in Pankow und Marienfelde zwei neue Schwimmhallen für insgesamt 38 Millionen Euro zu errichten. „Diese Vorhaben werden nicht vor 2021/2022 realisiert. Das ist viel zu lange. Die Stadt hat einen Sanierungs-Rückstau bei Schwimmhallen von rund 100 Millionen Euro. Da gilt es heute anzusetzen. Bevor wir uns weiteren absolut unnötigen und am tatsächlichen Bedarf vorbei orientierenden Phantomen widmen, wäre es im ersten Schritt ein Erfolg, wenn die Berliner Bäder-Betriebe überhaupt die mit dem Senat vereinbarten Wasserflächen zur Verfügung stellen könnten“, sagt Stefan Jensen und rechnet vor: „2016 wurden lediglich 94 Prozent dieser sowieso viel zu geringen Wasserflächen bereitgestellt, bedingt durch einen akuten Fachkräftemangel, fehlende Investitionen und Missmanagement.“ Dabei haben Leistungssportler nach ihrer Karriere eine aussichtsreiche Zukunft. Viele Firmen stellen bevorzugt ehemalige Sportler ein, weil sie durch eine gute Schule gegangen sind was Willensstärke, Disziplin, Ausdauer und Ehrlichkeit angeht. Aber: „Wir können gar keine Talente mehr ausbilden. Erstens fehlen uns die Trainer, zweitens fehlt uns die Wasserfläche zum Üben. Ich fühle mich im Gegensatz zu den Bedingungen vor 30 Jahren in die Steinzeit zurückversetzt“, resümiert Beate Ludewig und appelliert: „Schwimmen muss unbedingt Leistungssport bleiben. Sonst fällt die Basis weg.“
Hans-Christian Moritz