Schneller, weiter, härter

Kaum ein Wettbewerb vereint Spitzenathleten und Volkssportler so sehr wie ein Marathonlauf. Zwischen Langstrecklern aus den Läufer-Wunderländern Äthiopien und Kenia herrscht nicht eben Freundschaft. Die Afrikaner sind sich allerhöchstens in einer Art Burgfrieden verbunden, wenn es bei den gut dotierten Wettbewerben darum geht, den Rest der Welt meilenweit abzuhängen. So war Kenenisa Bekele vor einem Jahr betrübt, obwohl er am 8. September als Erster das Ziel des Berlin-Marathons erreichte und die Siegerprämie von 50 000 Euro auf sein Konto floss. Doch mit der für jeden anderen Läufer als Traumzeit ausgewiesenen 2:03:03 Stunden hatte der Äthiopier den zwei Jahre zuvor an gleicher Stelle markierten Weltrekord des Kenianers Dennis Kimetto um die Winzigkeit von sechs Sekunden verfehlt. „Ich habe euch enttäuscht“, waren seine ersten Worte im Ziel. 

Der Ärger wird schnell verflogen sein, wenn der Afrikaner seinen Kontostand überprüft. Denn die 50 000 für den Sieger sind nur der offizielle Bonus, den er sich neben dem üppigen Antrittsgeld sichern konnte. Das haben die zahlreichen und dabei selbst gut verdienenden Manager die Wunderläufer gelehrt. Oft stehen sechsstellige Antrittsboni im Raum. Der Äthiopier Haile Gebrselassie war ein Meis-ter darin. In bitterer Armut auf-gewachsen, bescherten ihm seine schnellen Beine ein millionenschweres Wirtschaftsimperium in und außerhalb des Heimatlandes. Wer ihn vor einem knappen Jahrzehnt auf dem Höhepunkt seiner Karriere verpflichten wollte, musste mit mindestens einer halben Million in Vorkasse gehen.

So viel wird Eliud Kipchoge nicht fordern. Der Kenianer gilt derzeit als bes-ter Marathonläufer der Welt und gab bereits im Juli seine Zusage für den Start am 24. September in Berlin. Der Olympiasieger von Rio will den Lapsus von Kenenisa Bekele aus dem Vorjahr nutzen und schneller laufen als sein Landsmann Dennis Kimetto 2014. In London hatte er acht Sekunden darüber gelegen, und mit seinem Berlin-Triumph 2015 absolute Klasse angedeutet. Probieren durfte die Zeit der 32-Jährige schon einmal. Anfang Mai lief Kipchoge auf der Formel-1-Rennstrecke in Monza mit 2:00:25 Stunden die schnellste jemals erzielte Zeit über die Marathondistanz. Allerdings nutzte der Kenianer dabei wechselnde Tempomacher, die ihm vom Start bis ins Ziel Windschatten schufen. Das ist nicht erlaubt. Maximal drei Tempomacher können eingesetzt werden, die allerdings nicht ausgetauscht werden dürfen. „Aber ich war nahe an den zwei Stunden. Jetzt ist Berlin für mich die passende Gelegenheit, den offiziellen Weltrekord anzugreifen“, schickt der Olympiasieger seine Kampfansage voraus.

Über die Antrittsgage des Topfavoriten wird Stillschweigen bewahrt. Die 2006 gegründete Vereinigung der Abbott World Marathon Majors, der Zusammenschluss der bedeutendsten Marathons weltweit, soll das Finanzgebaren der Manager abfedern. Als Ausgleich erhält der Gesamtsieger 500 000 Dollar Prämie. Zu dieser Weltserie zählen die Läufe von Tokio, London, Boston, Berlin, Chicago und New York. Dabei gilt das Rennen durch die deutsche Metropole als schnellstes: Hier wurden alle zuletzt aufgestellten Weltrekorde markiert.

Für die Masse der Läufer sind die Kenianer und Äthiopier, die auf der Straße des 17. Juni ohnehin in der ers-ten Startreihe weit vor den „Volkssportlern“ stehen, vor wie nach dem Rennen außer Sichtweite. Während des Wettbewerbs ohnehin. Mehr als 40 000 der 45 000 Teilnehmer treten nach dem Motto an, das die Laufgruppe am 8. November 1964 beflügelte. An jenem Tag hatte der Laufenthusiast Horst Milde etwa 700 Gleichgesinnte am Teufelsberg zum Crosslauf versammelt, der als Geburtshelfer und Vorläufer des Berlin-Marathons gilt. Seinerzeit hätte sich aber noch kein Mensch vorstellen können, dass für eine Laufgruppe nahezu die gesamte Innenstadt gesperrt und der Autoverkehr umgeleitet wird.
Die große Skepsis und immer noch andauernde Wut der Gegner wird mittlerweile ausgeglichen durch die Millionen-Einnahmen, die mehr als 100 000 Touristen am Rande des Marathons in die hauptstädtische Kasse spülen.

Der Berlin-Marathon bleibt ein Magnet. Dagegen haben andere Veranstalter seit gut zehn Jahren mit rückläufigen Anmeldezahlen zu kämpfen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen wuchsen Marathons wie Pilze aus dem warmen Waldboden. Zum anderen wollen sich viele Sportler die Tortur nicht mehr antun, und weichen auf den gemütlicheren Halb-Marathon aus, der in fast gleicher Zahl weltweit angeboten wird. Wieder andere suchen einen noch intensiveren „Kick“, und testen sich bei Wettbewerben, die weit in den Extremsport hineinreichen. Die 100 Kilometer von Grünheide, die alljährlich Ende März unweit von Berlin mit Start und Ziel im Bundesleistungszentrum Kienbaum ausgetragen werden, erlebten in diesem Jahr ihre bereits 37. Auflage. Daneben feiern immer weitere Läufe ihre Geburtsstunde: von Berlin an die Ostsee, entlang der Elbe von Dresden nach Hamburg – auch schwimmend. Es geht aber auch härter, weiter – krasser. Der Badwater-Run lockt Leute, die ihre Grenzen austesten möchten. Fast 4 000 Höhenmeter sind auf den 217 Kilometern durch das Death Valley genannte Gebiet der kalifornischen Wüste zurückzulegen. Bei 49 Grad Hitze Durchschnittstemperatur brauchen die Besten etwas über 30 Stunden, mehr als die Hälfte der knapp 100 Teilnehmer kommt nicht ins Ziel.

Das hat mit Marathon nichts mehr zu tun. Und obwohl Berlin durch die Tempo-Strecke in aller Munde ist, gilt Boston als Urvater der Stadtläufe. Schon ein Jahr nach den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit fand am 19. April 1897 die Premiere statt, und seitdem wird ununterbrochen am Patriots Day, dem dritten Montag im April, gelaufen. Doch aus den 15 Athleten vor 120 Jahren ist eine solche Zahl Begeisterter geworden, dass die Veranstalter die Bremse ziehen mussten und eine Qualifikation einbauten. Trotz des Bombenattentats vor vier Jahren, das drei Todesopfer forderte, reißt die Begeisterung für diesen Lauf nicht ab. Der Starter muss in einem maximal 18 Monate zurückliegenden Marathon eine vorgegebene Zeit erreicht haben, die derzeit weit unter vier Stunden liegt.

Eine solche Richtzeit haben die Berliner Veranstalter noch nicht eingeführt, wohl aber ein Startgeld von 108 Euro pro Teilnehmer. Und obwohl der diesjährige Lauf noch nicht einmal gestartet ist, empfehlen die Experten allen Volkssport-Enthusiasten bereits jetzt die Registrierung für einen Platz im limitierten Feld für das Jahr 2018. 

Hans-Christian Moritz

 

71 - Sommer 2017
Sport