Backstein in Berlin? Da fällt spontan Befragten zunächst gar nichts ein. Berlin? „Ich denke da eher an Niedersachsen.“ „Backstein, das ist Hamburg oder London!“, lautet eine Antwort. Sie mag den Städtewettstreitberlinern deutlich missfallen, zumal wenn es um Innovationen in der Ziegelbauweise geht, wie sie in diesem Jahr am Erweiterungsbau der Tate Modern von Herzog & de Meuron zu bestaunen war.
Aus dem DAZ, dem Deutschen Architekturzentrum, kommt der Verweis auf die Konstantinbasilika in Trier, bei der Frage, welches Backsteingebäude das Herz höher schlagen lässt. Trier für die Geschichte und Amsterdam für die Gegenwart. Aber bitte, geht denn keiner an der Spree spazieren und schaut sich um? Eine kleine Kulturgeschichte des Backsteinbaus lässt sich auf dem Gelände des Osthafens erleben. Hier versammeln sich Sanierung und Neubau; das „Eierkühlhaus“ (1929), Domizil von Universal Music, mit seinem fantastischen Klinkerrautenornament und das vom Architekten Sergei Tchoban 2012 gebaute nhow-Hotel. Einzelne Mauersteine und Backsteingruppen springen hervor und ergeben einen freien Rhythmus. Neben der markanten Fassade sorgt das Kranhaus für Traditionsbezug und Wiedererkennung. Neue Wohnhäuser, Hotels und Bürobauten schieben sich mit ihrer zeitgenössischen Backsteinoptik, violettdunkel und anthrazitfarben, hellbeige bis weißgrau mit akkurat verputzter steinbündiger, verschlämmter oder ausgekratzter Fuge als strukturstarke Nachbarn in Berliner Häuserzeilen, in denen – berlintypisch – Putzfassaden, ergänzt von Glas, Stahl und Beton, vorherrschen. Die Baustile dabei höchst verschieden. Am Monbijoupark werden Backsteinmauerwerk und Rundbögen großzügig neuinterpretiert und so ein Kontrast zum ornamental gefassten Postfuhramt von Carl Schwatlo und der benachbarten Neuen Synagoge, beide historische Bauten stammen aus den 1880er Jahren, geschaffen. Ein paar Ecken weiter steht seit 2012 mit dem Zentrum für Archäologie von Joel Harris und Volker Kurrle ein Backsteinmonolith, dessen puristische Wirkung nicht zuletzt auf der Mauerwerkspräzision liegt, wogegen das Kupfergraben-10-Galeriehaus (2007) von David Chipperfield und Alexander Schwarz mit seinen Abrissziegeln in ockerfarbener Schlämmverfugung eine Weichzeichnung darstellt. Das seinerzeit viel diskutierte Eckgebäude vis-à-vis dem Neuen Museum mag man noch immer als erste Charmeoffensive für eine sinnliche Moderne in Berlin wahrnehmen. Die Backsteintour mäandert durch die Stadt mit einem Blick zurück: Das Rote Rathaus – eigentlich ein Tourstart! Prominent der Bahnhof Hackescher Markt als besondere Schönheit oder die Oberbaumbrücke (1894–1896) mit ihren charakteristischen Türmen. Die über die Stadt verteilten, mitunter versteckten Kirchlein (hinter Plattenbau und Norma St. Mauritius in Lichtenberg) oder imposante Gotteshäuser ebenso wie die alten Brauereien erzählen Backsteingeschichte; die Bahnhöfe, Wassertürme, Gasometer ebenso wie die Gewerbebauten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Mit Restaurants, Kultureinrichtungen oder Startups zieht neues Leben in die einstigen Häuser und Höfe. In der Walter-Friedländer-Straße entstehen auf historischem Gelände Steinlofts. Die Umnutzung ist auch hier Programm. Es geht um einen sensiblen und bewahrenden Umgang mit vorhandenen Flächen und Baumassen, um das Erschließen von Reserven für die Stadtverdichtung, dabei auch um die Originalität des Ortes. Ein Novum hinsichtlich der Komplexität ist das städtebauliche Projekt eines kompletten Backstein-Wohnmischgebietes auf einem Ex-Gewerbegelände in Charlottenburg. Backstein gehört zu Berlin – gestern wie heute. Seit etwa zehn Jahren gäbe es eine neue Entwicklung, sagt Kaye Geipel, Chefredakteur der Bauwelt. „Lange war Backstein historisierend konnotiert und verbunden mit traditionellen Bauweisen. Das hat sich deutlich gewandelt.“
Den ersten nennenswerten Backsteinschub erbrachte die Bautätigkeit unter Friedrich Wilhelm III. mit seiner Anlehnung an die Neogotik der Briten. Karl Friedrich Schinkel nahm sich der ästhetischen (und restaurativen) Sehnsucht nach alten Zeiten und ewiger Schönheit mit eigenen Interpretationen und seiner berühmten Klarheit an. In den Zeitgeist der Schinkelschule gehören nicht allein die von Schinkel selbst entworfene Friedrichswerdersche Kirche oder die im Wiedererrichtungsprozess verharrende Bauakademie, sondern auch Friedrich August Stülers St.-Matthäus-Kirche (1845) im Tiergarten. Das von Schinkel geprägte Berlin ist ohne den gebrannten Bauwerkstoff nicht denkbar. Der Architekt und Oberbaumeister hat nach Aufenthalten in Norditalien und in England die uralte Bautradition für das damalige Preußen wiederentdeckt und die rudimentären Handwerksfähigkeiten wieder zur Qualität geführt. Es ist also kein Wunder, dass neben touristischen Themenführungen zu den Preziosen in Ziegelbauweise auch eine Internetgemeinschaft existiert, die unter dem Titel „Backsteintour“ ihre Entdeckungen regelmäßig mitteilt. Von den einstigen Schlachthöfen bis zum denkmalgeschützten Ensemble roter Backsteinbauten der Charité, die 1896 durch die Erweiterungsinitiative des preußischen Politikers Friedrich Althoff errichtet wurden, gibt es viel zu entdecken. Das industrielle Berlin hat sich zweckrationale und zugleich ikonische Produktionshallen und Bürogebäude (Peter Behrens, Turbinenhalle in Moabit, 1909; Hans Poelzig, Haus des Rundfunks, 1929, Charlottenburg) errichtet. Beispielgebend sind auch die zahlreichen Umspannwerke von Hans Heinrich Müller wie das kathedralenmäßige Gebäude in der Kopenhagener Straße. Es sind imposante Klinkerbauten – gelb, violett-rot, mal pur, mal glasiert und mit Betonung der Vertikalen. Bevor Glas und Stahl und Beton den Siegeszug antraten, baute Mies van der Rohe 1933 das Landhaus Lemke mit einer rotbunten Ziegelfassade in Alt-Hohenschönhausen wie auch weitere Villen in Krefeld. Sein Faible für den traditionellen Baustoff im Kontext von klaren Fronten und Flachdach drückt der Bauhaus-Architekt mit folgendem Bonmot aus: „Architektur beginnt, wenn zwei Backsteine aufeinandergesetzt werden.“ Mit Blick auf die vielen Verballhornungen aus den Neunzigern, vor allem am Stadtrand, darf man dem prominenten Architekten widersprechen. Das Haus am See gilt allerdings als ein Geheimtipp der Berliner Architekturlandschaft. Drei Backsteinphasen lassen sich in Berlin beschreiben – Schinkel, Gründerzeit, Expressionismus-Moderne. In den Neunzigern knüpfte vor allem Hans Kollhoff an die Tradition einer neusachlichen Moderne an. Backstein ist back! Allein der „Fritz-Höger-Preis für Backsteinarchitektur“, benannt nach dem Hamburger Architekten (1877–1949), dessen Chilehaus aus den Zwanzigern als ein imposantes Beispiel expressionistischer Großbauten zum Unesco-Kulturerbe gehört, verzeichnet Jahr für Jahr mehr Beteiligungen. 2017 waren es über 600 Einreichungen aus 32 Nationen. Nachdem es 2012 Gold für die Sanierung des Neuen Museums (Büro Chipperfield) gab, wurde in diesem Jahr Silber an das Berliner Büro Barkow Leibinger für die „Pyramide vom Prenzlauer Berg“ verliehen. Das preisgekrönte Hof-Wohnhaus wird von einem Fassadenmauerwerk aus 20 000 Ziegeln zusammengefasst. Es ist ein Gebäudekörper, der die Dreiteilung von Sockel, Geschoss und Dach ad absurdum und das Haus zu einer provozierenden, archaisch-zeichenhaften Ganzheit führt.
Anita Wünschmann