Die Potsdamer Straße findet allmählich zu alter Bedeutung zurück und bleibt ein Stück typisches Berlin. Die Straße ist wie diese Stadt, stellenweise noch etwas schäbig, aber zunehmend schick und immer noch verheißungsvoll. Welten treffen aufeinander. Ende des 19. Jahrhunderts galt das Areal als „feinste Wohngegend in Berlin“, geschätzt von Bessergestellten und Kunstliebhabern. Theodor Fontane wohnte in der Potsdamer Straße wie auch Marlene Dietrich, als sie ein Kind war. Im Volksmund auch „Potse“ genannt, wurde die Straße einst als Achse zwischen den königlichen Residenzen angelegt. Sie ist insgesamt knapp zweieinhalb Kilometer lang, und mit täglich 30 000 Fahrzeugen gehört sie zu den verkehrsreichsten Straßen Berlins. Anderthalb Straßenkilometer erstrecken sich im Stadtteil Tiergarten, das kürzere Ende gehört zu Schöneberg.
Auf ihrer gesamten Länge sind sämtliche Eigenschaften einer Großstadt verteilt. Vom Kleistpark in Richtung Potsdamer Platz beginnt es mit der typischen Berliner Mischung aus Fahrradläden, Wettbüros, Drogeriefilialen und Supermärkten. Das sogenannte Pallasseum, früher auch Sozialpalast genannt, ist eine riesige Wohnanlage aus den 1970er Jahren. An der Ecke Potsdamer-/Pallasstraße hatte einst der Berliner Sportpalast gestanden, berühmtberüchtigt durch die Rede des Reichspropagandaministers Goebbels vom „Totalen Krieg“ im Februar 1943. Anfang der 1970er Jahre war er abgerissen worden. Viele Mieter des Wohnkomplexes leben von Transferleistungen. Der Anteil migrantischer Bewohnerinnen und Bewohner ist groß, wenngleich die immer noch günstigen Wohnungen auch bei der angestammten Bevölkerung immer beliebter geworden sind. Unlängst wurde die Schöneberger Wohnmaschine unter Denkmalschutz gestellt.
Vis-à-vis tritt das neue Berlin auf den Plan. Nach einem Entwurf des Architekten Max Dudler baut die HGHI Holding, einer der großen Projektentwickler der Stadt, auf einem 1 700 Quadratmeter großen Grundstück ein neues Wohn- und Geschäftshaus. 2019 soll es fertig sein.
Die Ecke Potsdamer-/Kurfürstenstraße hatte in der Vergangenheit immer wieder durch den ansässigen Straßenstrich unrühmliche Bekanntheit erlangt. Anwohner beklagten sich. Der Bau eines Großbordells konnte vor einigen Jahren verhindert werden. Aktuelle Bauprojekte verdrängen das Rotlicht-Milieu zunehmend in die Seitenstraßen. Im Straßenabschnitt jenseits der Kurfürstenstraße ist die Gentrifizierung der Potsdamer Straße weit fortgeschritten. Spitzenköche haben diesen Teil der Straße für sich entdeckt. Puschel’s Pub und die alteingesessene Joseph-Roth-Diele sind bodenständige Ausnahmen. Und wenn die Köche kommen, ist der Imagewandel endgültig vollzogen. Die Künstler und die Galeristen waren noch vor ihnen da. Zusätzliche Ausstellungsmöglichkeiten eröffnete ihnen in den letzten Jahren das leer stehende Tagesspiegel-Gebäude. So haben sich die Mercator-Höfe zu einem viel beachteten Galerienstandort entwickelt. Zwischen Pohlstraße und Lützowstraße, wo auch das legendäre Varieté-Theater Wintergarten ansässig ist, ist die Dichte an Kunst und Küchen mittlerweile am größten. Gerade die frisch restaurierten Höfe zeugen von dem neu erwachten Selbstbewusstsein. Restaurants wie das Panama, die Brasserie Lumières und das Golvet haben sich bewusst für die Potsdamer Straße entschieden. Zuvor hatten einige der Gastromen in Mitte ihre Meriten verdient. Und wo Kunst und Küche ansässig sind, ist die Mode nicht weit. Kürzlich haben Labels wie Odeeh und Acne an der Potsdamer Straße eröffnet. Eine Mischung aus Büros, Kunst, Mode und Gastronomie verfolgt auch die ANH Hausbesitz mit ihrem preisgekrönten Gebäudekomplex „Neue West“. Der Name will als bewusste Anspielung an den „Alten Westen“ verstanden werden. Das denkmalgeschützte Ensemble befindet sich auf einem 1500 Quadratmeter großen Grundstück in der Potsdamer Straße 91. Es steht par excellence für die neue Potsdamer Straße. Die Leiterin der Berliner ANH-Niederlassung Isabel Mattmüller wundert sich eigentlich nur darüber, dass der Knoten in der Potsdamer Straße so spät geplatzt ist: „Das ist ja eine absolute Innenstadtlage, so zentral gelegen – und ich hatte immer damit gerechnet, dass die Straße viel, viel früher beginnt, sich zu verändern. Seit gut drei Jahren passiert das ja jetzt auch. Eine neue Klientel ist angekommen.“ Wichtig ist jedoch auch ihr die Mischung, denn das mache die Attraktivität der Potsdamer Straße aus.
Karen Schröder