Neues vom Bücherberg

Man müsste so viel lesen. Aber was?
Susann Sitzler hat sich schon mal durch die aktuellen Neuerscheinungen gewühlt. Hier ihre Empfehlungen.

 

Die richtige Liebe im falschen Leben

Es gibt viele Variationen der romantischen Liebe und obwohl man darin meist nach dem Glück sucht, erinnert man sich doch oft deutlicher an den Schmerz. Die Figuren in Manuela Reicharts Erzählungsband „Beziehungsweise“ streben alle mehr oder weniger nach dem Glück der Verschmelzung – und landen nicht selten in der Resignation. „Der Anfang ist immer schön“, schreibt Reichart. Doch das, worum es geht, passiert erst danach. Lebensnah und mit eleganter Abgeklärtheit erzählt die Berliner Autorin von einem miteinander in die Jahre gekommenen Paar, das seine Liebe mit erdachten Varianten neu erzählt und einander dabei jede Kränkung nochmal serviert. Von einer Frau, die sich in jeder Beziehung neu erfindet und doch nie den Schmerz bewältigt, dass sie einst die Kinder beim ersten Ehemann zurückließ. Aber auch von Liebenden, die miteinander ruhig und zufrieden geworden sind. Ein bittersüßes Buch über Liebeslügen, die nicht selten den Grundton eines ganzen Lebens bestimmen und den Weg zum Abenteuer weisen. Und eine tröstliche Lektüre für alle, die hadern oder glauben, dass ein anderes Leben, ein anderer Partner, sie glücklicher hätte machen können.

Information

Manuela Reichart:
„Beziehungsweise. Liebesvariationen“.
Dörlemann, 176 Seiten, 18 Euro.


 

Natur, nicht natürlich

„Ich wusste, dass sich die Natur nicht natürlich anfühlen würde.“ Romantisch ist es nicht, was die dänische Psychologin Andrea Hejlskov über das Experiment ihres Lebens schreibt. Tiefe Verzweiflung über den Zustand des eigenen Familienlebens – Mann depressiv, die vier Kinder entfremdet, Konto trotz hektischer Arbeit immer leer – brachte die Autorin und ihre Familie 2010 dazu, einen radikalen Schnitt zu machen. Zunächst auf ein Jahr befristet, lösen sie ihr bisheriges Leben auf um in einer Hütte im schwedischen Wald als Selbstversorger eine frühere Zivilisationsform wiederzuentdecken. Dabei wollen sie einander und ihre Kinder – das älteste kurz vor der Pubertät, das jüngste ein Baby – anders erleben als nur vor Bildschirmen verschanzt. Mithilfe eines etwas obskuren Aussteigers, der sich „Kapitän“ nennt, fängt die Familie im Wald neu an. Das einfache Glück stellt sich nicht ein. Doch es wächst in ihnen eine neue Kraft und schließlich ein tiefgreifender Entschluss.

Bildstark und poetisch erzählt die Autorin und Bloggerin nicht nur vom äußeren Erleben sondern vor allem auch von der inneren Dynamik ihres radikalen Versuchs und zeigt: Man kann sich selbst nicht entkommen. Aber man kann an jeder Aufgabe wachsen. Eine beeindruckende Lektüre – sogar für überzeugte Großstädter.

Information

Andrea Hejlskov:
„Wir hier draußen. Eine Familie zieht in den Wald“.
Deutsch von Roberta Schneider.
Mairisch, 296 Seiten, 20 Euro.


 

Tiere sehen uns an

Die Details und die Nebensächlichkeiten sind oft das Interessanteste an einer Geschichte. „Trivia“ werden solche Nebeninformationen in der Filmwelt genannt. Doch auch aus anderen Bereichen gibt es solche „vermischten Meldungen“. Rund dreihundert kuriose und erstaunliche Tatsachen und Meldungen in Zusammenhang mit Tieren haben die Berliner Autorin Lucia Jay von Seldeneck und der Illustrator und Tätowierer Florian Weiß für ein prachtvolles Buch mit dem etwas sperrigen Titel „Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen“ gesammelt. Der japanische Kaiser Hirohito war ein so beseelter Hobbymeeresforscher, dass sich die britische Königin beschwerte, man könne sich mit ihm ja bloß über Fische unterhalten. Dass deutsche Störche nicht in heimischen Sümpfen versteckt den Winter verschlafen, sondern nach Afrika ziehen, entdeckte man 1822 zufällig, als ein Storch mit einem ostafrikanischen Pfeil im Hals nach Mecklenburg zurückkehrte. Ausgerechnet Neonazis sind verantwortlich, dass der Hitlerkäfer ausstirbt. In fiktionalen Szenen skizziert von Seldeneck die Begebenheiten, in wunderbar filigranen Zeichnungen auf aufklappbaren Doppelseiten illustriert Weiß die dazugehörigen Tiere. Ein kurioses, wunderbares Bilderbuch für Erwachsene.

Information

Florian Weiß und Lucia Jay von Seldeneck:
„Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen.
Tiermeldungen aus zweiJahrtausenden“.
Kunstanstifter Verlag, 196 Seiten, 28 Euro.


 

Ärger in der Walachei

In seinem Debütroman „Karpathia“ wagt der französische Autor Mathias Menegoz den ganz großen Erzählbogen. Der junge ungarische Graf Alexander Korvanyi sollte in der kaiserlichen Armee der Habsburgermonarchie eigentlich Karriere machen. Doch er heiratet lieber die ungestüme österreichische Baronesse Cara von Amprecht, um mit ihr die Güter seiner Familie in der entlegenen Walachei wieder auf Vordermann zu bringen. Dort trifft das Paar auf eine durch Aberglauben, gegenseitiges Misstrauen und generationenalte Händel und Kuhhandel verbundene Gemeinschaft aus Leibeigenen und Provinzadel, die in den Neuankömmlingen eine Bedrohung der gewohnten Verhältnisse sehen. Als der Graf zu einem großen Jagdfest lädt, brechen lange verborgene Spannungen jäh aus.

Psychologisch überzeugend zeichnet Menegoz seine Figuren und deren Interessen. Detailreich webt er Kenntnisse der Gebräuche jener Zeit in die Handlung. So entsteht ein Seite um Seite vielschichtigeres Sittengemälde einer komplexen und an ihren Abhängigkeiten fast erstickenden Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch „Karpathia“ ist nicht nur ein historischer Schmöker. Sondern auch eine Reflektion über die Gefahren von Nationalismus und Irrationalität – die heute wieder aktuell sind.

Information

Mathias Menegoz: „Karpathia“,
aus dem Französischen von Sina de Malafosse.
Frankfurter Verlagsanstalt, 680 Seiten, 28 Euro.

 

72 - Herbst 2017
Kultur