Der Hegelplatz in Mitte

Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze. Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt. Diesmal: Der Hegelplatz in Mitte

Hegel? Wer ist Hegel? Die zwei jungen Männer kreisen um das Denkmal mit dem Bronzekopf und suchen nach einer Inschrift, einer Info-Tafel, die das Rätsel löst. Gibt’s aber nicht, einfach nur „Hegel“ steht auf dem Muschelkalk-Sockel, in die Bronze sind noch die Buchstaben G.W.F eingraviert, der Name des Bildhauers und römisch eine Jahreszahl. Die Jungs warten ratlos auf eine Freundin, die an der Humboldt-Universität studiert. Sie sei schon oft an dem Denkmal vorbeigelaufen, sagt sie dann, aber wer dieser Hegel ist, das weiß auch sie nicht. 

Nicht wirklich überraschend für den Mann, der seit fast 150 Jahren auf dem kleinen Platz mit seinem Namen thront. 1872 wurden Platz und Denkmal eingeweiht. Generationen von Studenten sind ahnungslos an Hegel vorbei geschlendert, nachsichtig hat er auf sie herunter geschaut. Dabei war er doch eine Attraktion im deutschen Geistesleben, Philosophie-Dekan als Nachfolger des großen Fichte, später Rektor der Uni. Und auf dem Platz hinter der Humboldt-Uni ist sein Denkmal nun wirklich das einzige Schmuckstück. Eine Tischtennis-Platte gibt es noch und jede Menge Fahrradständer, ein paar Bäume und räudige Büsche. 

Ein Haus nur ist von der ursprünglichen Bebauung übrig geblieben, Hegelplatz 1 steht über dem Eingang. Rechtsanwälte und ein Notar residieren in dem Anwesen mit Holzpaneelen im Treppenhaus, die AOK für Studenten und ein Antiquariat. Im Dachgeschoss die linke Wochenzeitung „Freitag“, die sich weniger Hegel als Karl Marx verbunden fühlt. Ansonsten säumen unscheinbare Neubauten das Areal. Im Sommer stellt ein Café, das sich „Weltgeist“ nennt, für die Studenten Liegestühle auf den Platz. Weltgeist, das erinnert den Kenner an Hegel; es ist ein wichtiger Begriff seiner Philosophie. Der Weltgeist war für ihn das Regiment der wirklichen Welt, dem die Philosophie ihre Geheimnisse ablauscht, ehe sie als freies Reich des Gedankens selbstständig erblüht. In Napoleon sah der Philosoph den „Weltgeist zu Pferde“.

Aber auch der Weltgeist geht mit der Zeit und zu Pferde kommt er heute nicht mehr. „Det is ja voll det global thinking hier!“, beschreiben die Café-Betreiber am Hegelplatz, wie der Weltgeist ihnen begegnet. „Hier schwirren die international ideas als bits and bites solange durch die luft, bis sie vom wlan-net aufgefischt werden. Hier wird getwittert und gesimst, gegoogelt und gesearched, gecopied und gepasted, gecrunched, down- und up-geloaded, gechatted und geadded, gebrainstormed, power-gepointed und manchmal auch deleted und gecancelled.“ Der Weltgeist reitet durch das World Wide Web. 

Hegel, in Stuttgart geboren, kam 1818 von Tübingen nach Berlin. Da war er schon eine Berühmtheit unter den deutschen Denkern. Zwei Bücherkisten hatte er im Gepäck und 2000 Taler Jahressalär in Aussicht. Vier Tage später hält er seine Antrittsvorlesung – in breitem Schwäbisch, wie Zeitgenossen berichten. Ein früher Schwabe in Berlin. Vor ein paar Jahren haben ihm Unbekannte dafür Ketchup über sein Denkmal gekippt und „Schwaben raus“ drauf geschrieben. Was soll’s. „Versenktheit in die Flachheit des Lebens“ und „Schalheit der Interessen“ machte Hegel schon zu seiner Zeit als eine gewisse Geisteshaltung aus. Immerhin, heute wäre er einer von 300 000 Schwaben in der Stadt.

Nur ein paar Schritte vom Platz entfernt, Am Kupfergraben 4a, wohnte Hegel. Das Haus steht nicht mehr. 

„Kegel? Kenn’ ich nicht“, sagt der junge Mann hinter dem Tresen des „Café Wilhelm“, das sich heute in einem Neubau an der Adresse befindet.

„Nicht Kegel, Hegel! Der Philosoph!“

„Keine Ahnung, wo der wohnt, ich komm mehr aus dem Osten, Richtung Lichtenberg.“

Drei Häuser weiter wohnt die Kanzlerin. „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“, schrieb Hegel, das dürfte ihr gefallen. Aber überliefert ist auch, wie der Philosoph über Frauen in höheren Ämtern dachte. „Stehen Frauen an der Spitze der Regierung“, soll er weitsichtig in einer Vorlesung gesagt haben, „so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung.“ Gut für ihn, dass damals nur Männer im Hörsaal waren, feministische Revolten gab es noch nicht, erst 80 Jahre später durften sich Frauen in die Immatrikulationslisten eintragen. Agnes von Zahn-Harnack hieß die erste Philosophiestudentin, eine Vorreiterin des Feminismus. Eine Gedenktafel am Platz erinnert an den akademischen Aufbruch. Hegel aber schaut stur an der kleinen Tafel vorbei. Als könnte er nicht glauben, dass es Frauen mal so weit bringen im Land.

Thomas Leinkauf

 

73 - Winter 2018